Schweig wenn du sprichst
Grad in den Hüften gebogen, aber mit aufrechtem Kopf auf dem verwachsenen Rücken. Victor sah eine alte, spindeldürre Frau, mit einem Gesicht wie ein verschrumpelter Lederlappen, mit schneeweißen, nach hinten gekämmten und im Nacken zusammengebundenen Haaren. Er musste sich bücken, um sie küssen zu können. Er hatte sie zuletzt bei der Beerdigung ihres Mannes Herbert gesehen. Er wusste nicht mehr, wie lange das her war. Maaike ergriff seine Hände und küsste ihn ausgiebig.
Dann schob sie ihn einen Schritt zurück – »Lass dich einmal genau anschauen!« – und führte ihn durch den niedrigen Stall, wo alles noch genauso roch, wie Victor es in Erinnerung hatte. Allerdings standen dort nur noch zwei Kühe.
»Ich schaffe so viel Arbeit nicht mehr«, sagte sie, »und nur einer meiner Söhne hilft mir ab und zu.«
Das Land hatte sie an einen anderen Bauern verpachtet, und abgesehen von ihren Kühen konnte sie nicht viel mehr als ein paar Hühner und ein Schwein unterhalten. Victor nahm sie am Arm. Er sah, dass die Farbe an den Wänden abgeblättert war, die Böden waren matt. Hier und da fehlten Lampen in den Halterungen, und ein paar Türen waren aus den Angeln gebrochen. Der Kaffee, den Maaike gekocht hatte, war schwärzer als schwarz und er schmeckte nach Zichorie. Seine Tante ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf einen alten, verschlissenen Stuhl fallen und sah ihn schweigend an. Victor bemerkte ihre leicht wässerigen Augen und beobachtete, wie sie mit einem kleinen weißen Taschentuch regelmäßig Tropfen unter ihrer Nase und um die Augen herum wegwischte. Dann musste er zehn Minuten lang eine Frage nach der anderen beantworten.
»Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen«, wiederholte Maaike nun schon zum dritten Mal. Sie hielt Victors Hände fest.
»Wann war Herberts Beerdigung? Vor zwölf, dreizehn Jahren?«
»Es wird bald fünfzehn Jahre her sein, Junge. Die Zeit vergeht rascher als man denkt.«
»Hast du ein bisschen Zeit, Tante?«
»Junge, für dich habe ich alle Zeit der Welt. Zeit und Rheuma sind das einzige, was ich noch zu vergeben habe.«
»Ist die Geschichte über Tante Filomeen und Onkel Max wahr?«
»Ich weiß nicht, welche Geschichte sie dir erzählt haben.«
»Ist er wirklich durch das Scheunendach gefallen?« Victor sah, dass die Geschichte Maaike Spaß machte. Sie nahm ein vergilbtes Foto vom Schrank, auf dem ihre Schwester und deren Mann strahlend in die Kamera schauten. Während sie das Foto mit dem Daumen streichelte, sagte sie: »Er sollte im Jahr ’44 über Antwerpen abspringen, um den Hafen zu befreien. Die Maschine war spät am Abend in England losgeflogen, und Max hat uns immer erzählt, dass die Piloten was getrunken hatten, bevor sie abflogen. Bei grünem Licht über der offenen Tür sprangen alle zweiundzwanzig Kameraden rechtzeitig raus. Nur Max nicht. Der hatte seine kleine Taschenlampe verloren und zu lange nach ihr gesucht. Das Licht war schon wieder rot. Das Flugzeug war schon außerhalb des Landungsgebiets, aber Max hat sich trotzdem aus dem Flugzeug gestürzt.«
»Ist das dein Ernst?«
»Er ist mitten durch das Dach unserer Scheune gefallen. Unser Vater und zwei meiner Brüder hörten den Krach und trommelten uns alle wach. Wir mussten im Haus bleiben, während sie mit einem Gewehr und mit Mistgabeln bewaffnet in die Scheune gegangen sind. Es war doppelt peinlich für Max, denn er hatte sich das Bein gebrochen, die Hose halb auf den Knien und pinkelte an die Wand, als die drei hereinstürmten. Er sprang instinktiv zu seiner Waffe und stolperte über die eigenen Füße.« Maaike lachte schallend: »Er lag, mit seinem nackten Hintern nach oben, flach auf dem Boden. Mit ausgestreckten Armen hat er gerufen, dass er ein englischer Soldat sei und unser Vater hat ihm dann schließlich aufgeholfen und ihn ins Haus gebracht. Wir haben ihm Suppe und Schnaps gegeben.«
»Nicht schlecht, für das erste Kennenlernen.«
»Unser Vater hat ihn dann auf dem Speicher untergebracht. In Sicherheit vor den Deutschen. Und Filomeen hat ihn mehr als einen Monat lang versorgt, bis sein Bein geheilt war. Er war ein schöner Mann und es hat sofort zwischen den beiden gefunkt. Als die Lage sicher war, ist er nach Hause gefahren. Aber er hat unseren Vater gefragt, ob er wiederkommen dürfe. Unser Vater hat damals gesagt: ›Unter der Bedingung, dass es für meine Tochter auch in Ordnung ist.‹ Und für sie war es in Ordnung. Ich weiß, unser Vater hat schnell mitbekommen,
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