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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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demnach nur von der Ostseite anrücken.«
    Sie nickte. »Das ist einer der Gründe, warum dieser Ort als Versteck so günstig ist. Aber die Hoffnung ist trügerisch. Falls sie uns hier finden, haben sie ohnehin gewonnen. Wir sind vier – sechs mit euch beiden; Nawatzkis Privatarmee haben wir nichts entgegenzusetzen.«
    »Wie kam es, dass du plötzlich in Prag auftauchtest?«
    Sie seufzte. »Hagen und ich wollten dich wie verabredet in Tiefental abholen, um dich hier im Turm zu verstecken. Als du nicht dort warst, war uns klar, was passiert war. Wir folgten euch so schnell es ging. Wie es aussah, kamen wir gerade noch rechtzeitig zum großen Feuerwerk.«
    Er wandte den Blick fort von ihrem Gesicht und sah hinauf zum Himmel. Die Vögel flogen verschlungene Kreise, als würden sie Signale geben. Signale an Nawatzki.
    Das, mein Freund, nennt man Paranoia, dachte er.
    »Was war mit den Briefen?«, fragte er.
    Einen Augenblick lang schwieg sie. »Du weißt, dass sie nicht von mir waren, oder?«, meinte sie dann.
    »Die Schrift änderte sich kurz nach deinem … Unfall.«
    »Ich habe lange Zeit nichts davon gewusst. Man sagte mir, du hättest den Briefkontakt abgebrochen. Ich habe ihnen nicht geglaubt, ich dachte, sie fangen sie ab und vernichten sie. Erst nach der Wende habe ich erfahren, dass jemand anderes sie für mich beantwortet hat.«
    »Aber warum?«, fragte er. Er wollte der Frage einen dramatischen Tonfall verleihen, doch sie klang nur spröde, fast desinteressiert. Nichts von all dem zählte noch.
    »Wir beide wussten nichts davon, aber jeder unserer Briefe wurde gelesen, kopiert und abgeheftet. Wir hatten Glück. Hätte irgendjemand die falschen politischen Tendenzen herausgelesen, wäre der ganze Kontakt sofort abgebrochen worden. Aber wir waren ja beide noch Kinder. Ich wusste noch nicht, in welcher Richtung ich bereits damals ausgebildet wurde. Erst mit siebzehn oder achtzehn erfuhr ich, für welche Laufbahn mich das Mfs ausgewählt hatte. Und ich ließ mich darauf ein. Nachdem mein Entschluss feststand, verbot man mir sofort jeglichen Kontakt zum Westen. Ich war naiv genug zu glauben, dass ich unsere Beziehung heimlich aufrechterhalten könnte. Eine Weile lang duldeten sie das. Aber dann kam der Moment, in dem sie mir erklärten, ich benötigte für meine Aufgaben eine neue Identität, die alte Sandra Kirchhoff müsse verschwinden. Man fingierte den Unfall, führte meinen Mann mit einer falschen Leiche hinters Licht und schickte mich in die Schulungszentren nach Berlin. Auch da versuchte ich noch, unseren Kontakt nicht abbrechen zu lassen. Über Verbindungen nach Leipzig gelang es mir, einige deiner Briefe abzufangen und zu beantworten. Aber das Ganze war natürlich eine Farce. Man stellte mich schon nach wenigen Monaten zur Rede und erklärte, der Kontakt sei mit sofortiger Wirkung zu beenden. Danach blieben deine Briefe aus, mit der offiziellen Begründung, dass du keine mehr schreibst.«
    Sie holte tief Luft, änderte ihre Position auf dem unbequemen Stein und fuhr fort. »Meine Vorgesetzten befanden sich in einer Zwickmühle. Hätten sie den Kontakt von meiner Seite aus schlagartig abgebrochen, mussten sie befürchten, dass du Kontakt zu meinen Eltern oder Verwandten aufgenommen hättest. Vieles davon hätten sie verhindern können, aber die Gefahr war zu groß, dass du mit einem oder zwei hättest sprechen können. Dadurch wäre herausgekommen, dass auch nach meinem angeblichen Tod noch Briefe aus meiner Hand in den Westen gelangt waren. Der vorgetäuschte Unfall wäre aufgeflogen. Also fasste man den Beschluss, den Briefkontakt fortzusetzen, durch jemanden, der meine Schrift und meinen Stil imitierte. Natürlich unter strengster Kontrolle des Ministeriums. Wäre es nicht zum Fall der Mauer gekommen, wärest du wahrscheinlich niemals dahintergekommen.«
    Carsten hörte konzentriert zu und bemühte sich, alles zu begreifen. »Aber die Briefe kamen auch noch nach der Wende, nachdem das Ministerium längst aufgelöst war«, wandte er ein.
    Sandra nickte. »Damals erfuhr ich, was passiert war. Das Land wurde wiedervereinigt, aber ich hatte noch immer eine Aufgabe zu erfüllen. Fenn, ich und die anderen waren zu diesem Zeitpunkt auf die Schweigenetz-Akten gestoßen. Das Problem blieb letztlich dasselbe: Es musste gewährleistet bleiben, dass der Rest der Welt mich für tot hielt. Nawatzki und von Heiden haben lange gebraucht, um hinter unsere Identitäten zu kommen. Wäre der Briefkontakt aber nach der

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