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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ließ er sich von Gabi sogar einen Schlips umbinden. Beim letzten Mal hatte sie gesagt, er sehe damit aus wie der Sprecher der Spätnachrichten.
    An diesem Tag trug Niklas Reichardt weder Krawatte noch Jackett. Auch die Kappe hatte er zu Hause gelassen. Er war unterwegs zu einer siebten Klasse, die er in Latein unterrichtete.
    Niklas war hellblond, mittelgroß und sportlich. Er wusste nicht, ob etwas dran war an den Geschichten, dass die Mädchen der Abiturjahrgänge sich oft in ihre Lehrer verliebten; sollte es so sein, so war er ein würdiges Objekt ihrer Gelüste, fand er. Als er einmal Gabi davon erzählte, hatte er sich die Krawatten ein halbes Jahr lang selbst binden müssen.
    Der Junge am Aussichtspunkt unter der Treppe spurtete zurück in den Klassenraum, als er um die Korridorecke bog. Niklas' Sekretärin hatte ihn mit Unterschriften für das bevorstehende Schulfest aufgehalten, deshalb hatte die Stunde bereits begonnen. Als Direktor kam er meist zu spät zum Unterricht. Noch ein Bonus bei den Schülern.
    Es war ruhig, als er den Raum betrat. Der Wachtposten hatte die anderen gewarnt. Die knapp dreißig Jungs und Mädchen saßen artig hinter ihren Pulten, einige tuschelten. Der eine oder andere schrieb noch die letzten Sätze der Hausaufgaben vom Nachbarn ab. Irgendjemand rülpste, ein anderer kommentierte es mit einem gedämpften »Drecksau!«.
    Niklas war gerne Lehrer. Er hatte sich den Beruf frühzeitig ausgesucht, aber lange studiert und war danach zielstrebig aufgestiegen. Direktor war er nun seit knapp drei Jahren; mit zweiundvierzig eine ziemliche Leistung. Gabi, selbst Lehrerin an der benachbarten Realschule, sagte, sie sei froh, nicht mit einem so jungen (und attraktiven) Vorgesetzten gestraft zu sein. Sie hätte auch so schon genug Ärger am Hals.
    Er packte seine Unterlagen aus, legte sie aufs Pult und blickte mit freundlichem Lächeln in die Klasse. Da saßen solche, die zurückgrinsten, solche, die einfach nur trübe glotzten, und andere, die ihn völlig ignorierten. Latein interessierte sie ungefähr so viel wie die chemische Formel für Pausenbrote, aber das war okay. Niklas selbst hatte es während seiner Schulzeit gehasst.
    Die Frühlingssonne knallte unerbittlich durch die großen Fenster. Ein dezenter Blick bestätigte ihm, dass das Alter für Miniröcke unaufhaltsam nach unten, ihre Säume aber nach oben rutschten. Er selbst fand es unerträglich heiß, und seine Arbeitsmoral war an solchen Tagen nicht die beste.
    Er wollte gerade beginnen, als es an der Tür des Klassenraumes klopfte.
    »Ja, bitte.«
    Seine Sekretärin trat ein, würdigte die Kinder keines Blickes und kam schnurstracks auf ihn zu. »Ein Anruf von Ihrem Sohn«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Er sagt, es sei sehr wichtig.«
    Bemüht, sich sein Erschrecken nicht anmerken zu lassen, erklärte er einen der vernünftigeren Schüler zum Gefängnisaufseher und ließ sie allein. Als er schweratmend in seinem Büro saß, stellte die Sekretärin das Gespräch durch.
    »Papa?«
    »Fabian, was ist los?«
    In seinem Kopf drehte sich alles. Es war noch nie – noch nie! – vorgekommen, dass jemand aus seiner Familie ihn aus dem Unterricht hatte holen lassen. Irgendetwas Furchtbares war passiert. Gabi hatte einen Unfall. Susi, seine Älteste, lag im Krankenhaus. Vielleicht Schlimmeres. Er hätte ihr niemals diesen verdammten Motorroller kaufen sollen.
    »Papa, ein Mann hat gerade angerufen.«
    Er brauchte einen Moment, um die Nachricht zu verdauen. »Bitte?«, fragte er dann.
    Fabian schluckte hörbar am anderen Ende der Leitung. Der Tonfall seines Vaters verhieß nichts Gutes. »Er hat gesagt, es sei wichtig und …«
    Niklas unterbrach ihn. »Und deshalb lässt du mich aus der Klasse rufen? Wegen eines Anrufs?« Er war ein geduldiger, freundlicher Vater, der keines seiner beiden Kinder jemals geschlagen hatte, aber das machte ihn wütend.
    Sein Blick fiel auf die Uhr an der Wand. »Warum bist du überhaupt so früh zu Hause?«
    Fabians Stimme klang hektisch. »Die beiden letzten Stunden sind ausgefallen, Herr Weichert ist krank, und es gab keine Vertretung.«
    Das stimmte. Niklas hatte eigenhändig die Pläne geschrieben. Seine Ruhe kehrte allmählich zurück.
    »Was soll das?«, fragte er. »Du weißt, was wir abgemacht haben. Anrufe nur im Notfall.«
    »Ja, sicher«, jammerte Fabian. »Aber der Mann sagte, es sei wirklich sehr wichtig und …«
    Er unterbrach ihn erneut. »Wer war's denn überhaupt?«
    »Weiß ich nicht. Hat

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