Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
vorübergehend, möglicherweise auch für länger, im Harz arbeiten werde. Er bat sie nicht um ein Treffen; wenn sie es wollte, würde sie ihn zu sich einladen. Hoffte er. Auf ihr letztes Schreiben nahm er keinen Bezug. Er legte den Brief oben auf die reisefertigen Koffer, um ihn am Morgen im Flughafen einzuwerfen.
    Später stieg er hinab ins Erdgeschoss und suchte seine Vermieterin.
    Elisabeth war in der Küche. »Alles fertig zur Abreise?«, fragte sie. Ihr fröhliches Lächeln wirkte unecht.
    Er setzte sich an den Tisch. Sie reichte ihm ein Glas Sherry. »Warten Sie, ich komme gleich zu Ihnen.« Sie goss sich selbst einen ein und nahm ihm gegenüber Platz.
    »Ihr Flug geht ziemlich früh, oder?«
    Er nickte. »Um sieben.«
    »Mein Gott, da müssen Sie ja schon um sechs am Flughafen sein.«
    »Ungefähr. Halb sieben reicht.«
    »Und um fünf aufstehen!«
    »Stimmt.«
    »Himmel, ich bin froh, dass ich nicht mehr verreisen muss.«
    »Ich würde auch lieber hierbleiben.«
    Sie lächelte gütig. »Das ist eine Lüge. Sie wissen das, und ich weiß es.«
    Er erwiderte das Lächeln und zuckte mit den Schultern. »Sie haben mir geraten, zu gehen.«
    »Sicher, und ich würde es gleich noch einmal tun. Sie blühen wieder auf, mein Junge. Es ist nicht gut für einen jungen Mann, allein in einem solchen Haus mit einer Mumie wie mir zu leben.« Sie sagte es ohne Verbitterung, mit einem hintersinnigen Schmunzeln um die Mundwinkel.
    »Unsinn, ich habe mich nirgends so wohl gefühlt wie bei Ihnen. Sie sollten die Bruchbude sehen, in der ich dort drüben hausen werde. Und erst die, in der ich arbeiten muss.«
    »Hören Sie auf. Sie haben sich diese Stelle ausgesucht, und das wird seine Gründe haben.«
    »Die Gründe kennen Sie.«
    »Sicher. Vielleicht ist auch eine kleine Freundin in Aussicht?«
    Er lachte. »Elisabeth, ist das Eifersucht, die ich da in Ihrer Stimme höre?« Es war ein Spiel, dass sie bei jeder Gelegenheit spielten.
    Diesmal war sie ehrlich. »Na, vielleicht ein bisschen. Gönnen Sie einer alten Frau wie mir ein wenig Sonnenschein.«
    Sie kicherten beide wie Verschwörer, dann wechselte sie das Thema. »Was wird aus den Zimmern?«
    »Ich würde sie gerne behalten. Wenn es Ihnen recht ist, heißt das. Sie würden sie sicherlich gerne anderweitig vermieten, aber das Haus ist groß, und vielleicht finden Sie ein paar andere Räume, die Sie …«
    »Kein Problem«, unterbrach sie ihn.
    »Bestimmt nicht?«
    »Natürlich nicht. Lassen Sie mich die Mutterrolle noch ein wenig weiter spielen. Ich werde Ihr Kinderzimmer für Sie warmhalten und im Winter heizen.«
    Er grinste. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist.«
    »Aber Sie kommen mich besuchen, oder?«
    »Sie werden sich noch wünschen, dass Sie mich endlich los sind.«
    »Für Sie steht immer ein Glas Sherry bereit. Versprochen.«
    Sie erhob sich von Ihrem Platz, ging zum Küchenfenster und blickte hinaus in den dunklen Garten. Carsten trat neben sie und folgte ihrem Blick. Eine Lampe erhellte die Büsche und Bäume. In ihrem künstlichen Licht wirkten die frischen Frühlingsblüten seltsam farblos und grau. Nach einer Weile drehte sie sich um und reichte ihm die Hand.
    »Auf Wiedersehen, Carsten. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
    Er nickte. »Auf Wiedersehen.« Er hauchte ihr einen sanften Kuss auf die Wange, wandte sich um und ging.

Kapitel 6
    Die Maschine landete gegen acht in Leipzig. Carstens Taxi blieb im Berufsverkehr stecken, erst im Harz leerten sich die Straßen. Gegen zehn kamen sie in Tiefental an. Carsten ließ sich vor seinem neuen Zuhause absetzen.
    Die Mülltonnen neben der Haustür waren immer noch – oder schon wieder – voll bis zum Rand. Ihr Geruch verfolgte ihn bis zur Wohnungstür. Drinnen stellte er seine beiden Koffer ins Schlafzimmer, warf seinen Mantel aufs Bett und sah sich um.
    Es hatte wenig Sinn, irgendetwas umzuräumen, ehe nicht die Handwerker hier gewesen waren, die von Heiden ihm zur Renovierung versprochen hatte. Er testete die Matratze, fand, dass sie viel zu weich war, und trug das Bettzeug ins Wohnzimmer auf die Ledercouch. Bis er sich ein vernünftiges Bett leisten konnte, würde er hier übernachten.
    Im Schrank fand er frische Bettwäsche und in der Küche einen nagelneuen Satz von Kochtöpfen. Außerdem standen dort Schachteln mit blitzendem Besteck und neuem Geschirr. Er nahm an, dass Michaelis dafür verantwortlich war.
    Er sah auf die Uhr und überlegte, ob es gleich am ersten Tag nötig sein würde, rechtzeitig zur
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher