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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz
Autoren: Kai Meyer
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schlechtes Gewissen, dass sie sie für einen solchen Reinfall aus dem Gewölbe entführt hatte, aber beide versicherten ihr, es sei nicht schlimm. Nicht sehr schlimm.
    Anschließend setzte Carsten sie zu Hause ab. Nina lebte in einer ähnlichen Straße wie er selbst, einem dunklen Einschnitt zwischen den Häusern, auf dessen Bordsteinen Mülltonnen und Plastiksäcke standen. Aus offenen Fenstern drangen Musik und laute Stimmen. Sie bedankte sich mit einem umwerfenden Lächeln und verschwand im Schatten eines Hoftors.
    Sebastian hatte es besser getroffen. Er bewohnte ein Apartment unter dem Dach eines renovierten Fachwerkhauses, nur zwei Blöcke von der Redaktion entfernt. Im Erdgeschoss waren eine Buchhandlung und eine winzige Galerie untergebracht. Carsten musterte das Gebäude mit unverhohlenem Neid. Eine Weile spielten sie mit dem Gedanken, oben in der Wohnung weiter zu trinken; schließlich einigten sie sich darauf, dies an einem der nächsten Tage nachzuholen. Beide waren müde, und das furchtbare Essen hatte ihnen die Stimmung verdorben.
    Später, in seiner Wohnung, streckte Carsten sich auf der Couch aus und starrte hinauf zur dunklen Decke. Die Ecken waren mit Stuckleisten abgesetzt; ein Vormieter hatte sie bis zur Unkenntlichkeit mit zähem Lack überpinselt. Unten auf der Straße holperte gelegentlich ein Wagen übers Pflaster, und einmal zog eine Gruppe lärmender Jugendlicher vorbei. Er stellte den Fernseher an, suchte MTV und ließ das Programm ohne Ton vor sich hin flackern. Ein paar Farbige tanzten um lodernde Mülltonnen.
    Er erinnerte sich an Sandra, an den Tag, als sie ihn nach Hause geschleppt hatte. Er an ihrer Stelle wäre losgelaufen und hätte einen Arzt oder seine Eltern geholt. Sandra dagegen hatte alles selbst in die Hand genommen. Sie hatten sich in militärischem Sperrgebiet aufgehalten, und Carsten konnte nur erahnen, welchen Ärger es gegeben hätte, hätte man sie dort gefunden. Sandra hatte intuitiv das einzig Richtige getan. Selbst heute, fünfzehn Jahre später, schien es ihm immer noch unglaublich. Vielleicht heute mehr denn je.
    Er vermisste sie, immer noch, und wusste gleichzeitig, wie lächerlich das war. So funktioniert das nicht, dachte er, du hast die Regeln nicht gründlich gelesen. Einmal über Los gegangen, gibt es kein Zurück. Rückwärtsspringen verboten.
    Ihr Gesicht tanzte vor seinen Augen, die hübschen, glatten Züge einer Vierzehnjährigen, und doch in seiner Vorstellung gereift und gealtert. Er hatte sie vor einigen Jahren um ein Foto gebeten. Sie hatte abgelehnt; das sei nicht gut, hatte sie geantwortet. Mehr nicht, keine Begründung. Er hatte es akzeptiert.
    Nun war sie mit einem Mal in greifbare Nähe gerückt. Er hätte sich ins Auto setzen und in nicht einmal zwei Stunden vor ihrer Haustür stehen können. Dabei war es so absurd. Er hätte sie viel früher besuchen können; wenn nicht vor der Wende, so doch spätestens nach Öffnung der Grenzen und dem Fall der Mauer.
    Warum hast du es damals nicht getan? Angst vor dem, was du finden könntest? Die Befürchtung, dass ihr Gesicht nach fünfzehn Jahren ein anderes ist als das in deiner Erinnerung? Oder einfach nur Respekt vor ihrem Wunsch nach Distanz?
    Er wusste darauf keine Antwort. Vielleicht war sie auch längst nicht mehr wichtig. Von Bedeutung war einzig, dass er jetzt hier war, dass er jetzt das Verlangen verspürte, sie zu treffen.
    Um ihr Bild endlich aus seinem Denken zu verbannen, musste er sie sehen. So bald wie möglich.
    Morgen.
    Die kleine Kirche lag am Nordrand von Jena, ein unauffälliger Bau aus grauem Stein, mit schmalem Glockenturm, schwarzem, zweiflügeligem Eingangstor und hohen Fenstern, finster und blind. Dahinter befand sich ein winziger Friedhof, voll mit kleinen, verwitterten Grabsteinen. Keines der von Regen und Wind ausgewaschenen Todesdaten war jünger als fünfzig Jahre. Seit Jahrzehnten war hier niemand mehr bestattet worden; heute landeten die Leichen auf den großen städtischen Gottesäckern.
    Doch nicht einmal das ehrwürdige Alter der Gräber hatte die drei jugendlichen Vandalen davon abhalten können, einige der Steine mit Lack zu besprühen und einen Papierkorb aus Drahtgeflecht in Brand zu stecken. Das war kurz nach Mitternacht gewesen, und seitdem waren eineinhalb Stunden vergangen.
    Niklas stand in einem dunklen Hauseingang und wartete darauf, dass auch die letzte Glut im Papierkorb erlosch. Die Jugendlichen waren aufgetaucht, kurz nachdem er seine Stellung bezogen
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