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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Konferenz um halb elf in der Redaktion zu sein. Es würde einen guten Eindruck machen. Außerdem gab es hier sowieso nichts weiter für ihn zu tun, als die Koffer auszupacken und seine Kleidung auf ein paar Stapel im Schrank zu legen. Hemden besaß er kaum welche; die wenigen hängte er über einen Satz hölzerner Kleiderbügel.
    Der Glanz des Vormittags lag über dem Städtchen und tauchte die Straßen und engen Gassen in ein verzaubertes Glitzern. Ein paar Autos knatterten an ihm vorüber, als er sich auf den Weg zu seinem neuen Arbeitsplatz machte.
    Auf dem Vorplatz, neben dem moosbedeckten Brunnen, stand ein schwarzer Golf. Brandneu. Carsten übte sich in Selbstbeherrschung und ging mit einem wehmütigen Blick daran vorüber. Der Wachmann grüßte und ließ ihn anstandslos passieren.
    Die Redaktionsmitglieder saßen bereits in einem Kreis um Michaelis, der mit hochgelegten Füßen in der Mitte thronte. Ohne erkennbare Ordnung hockten sie auf Stühlen und Tischplatten. Carsten erinnerte sich an den riesigen Konferenztisch, den von Heiden allein für sich in seinem Büro hatte, und verkniff sich nur mit Mühe ein Grinsen.
    »Herr Worthmann! Sie sind schon da!« Michaelis lächelte erfreut. Mit weitem Schwung nahm er seine Füße vom Tisch und verfehlte nur um Haaresbreite eine von Sebastians Coladosen.
    Der Redaktionsleiter stürmte auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Carsten grüßte in die Runde und trat an den Schreibtisch, den Michaelis ihm bei seiner ersten Ankunft zugewiesen hatte. Jemand hatte ihn gewischt und poliert. Er sah hinüber zu Nina. Die Sekretärin grinste. Sie trug wieder Jeans und ein viel zu großes Sweatshirt in giftigem Grün.
    Neben seinem Telefon lag ein Stapel frischgedruckter Visitenkarten. So schnell?, dachte er beeindruckt.
    »Haben Sie Ihren Wagen schon unter die Lupe genommen?«, fragte Michaelis.
    Es war Carsten peinlich, dass er ihn vor versammelter Mannschaft darauf ansprach. Zwei einheimische Kollegen tuschelten. Er konnte sie verstehen. Nur Redakteure aus dem Westen fuhren Dienstwagen.
    Michaelis bemerkte seinen Patzer und bemühte sich, das Thema zu wechseln. Doch Ehrlicher, der Sportredakteur, ergänzte: »Es war ein ziemliches Theater, ihn übers Wochenende hierher zu schaffen. Der Verlag muss gute Kontakte zum Hersteller haben.«
    Carsten sah Michaelis hilflos an. Nina und Sebastian wechselten einen amüsierten Blick und grinsten.
    Der Redaktionsleiter begann mit der Konferenz. Themen wurden vergeben, Termine abgesprochen, Kritik an erschienenen Texten geübt.
    Sebastian verbrachte im Anschluss eine Stunde damit, die umliegenden Polizeistationen abzutelefonieren und interessante Vorfälle zu notieren. Anschließend lehnte er sich zurück, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und sah Carsten über ihre beiden Schreibtische hinweg an.
    »Warst du früher schon mal im Osten?«, fragte er.
    »Ist schon ein paar Jahre her. Vor der Wende.«
    »Westverwandtschaft?«
    Carsten nickte.
    Er stellte den Golf auf einem Parkplatz am Waldrand ab. Von dort aus, erklärte Sebastian, sei es nur noch ein kleines Stück zu Fuß.
    Um sie herum wuchsen die Fichten in die Höhe wie eine Armee erstarrter Soldaten. Ein leichter Wind strich durch die Wipfel und erzeugte tief in den Wäldern ein gespenstisches Rauschen, wie schwerer, asthmatischer Atem. Das Unterholz wirkte in der Abenddämmerung noch schwärzer, noch bedrohlicher.
    Einmal bemerkte Carsten zwischen den Baumreihen ein funkelndes Augenpaar.
    »Wildkatzen«, erklärte Sebastian.
    Nach rund dreihundert Metern auf einem ausgetretenen Pfad hörten sie in der Ferne Stimmen und Gelächter. Das Gelände stieg steil an und wurde felsiger, die Bäume blieben hinter ihnen zurück. Sie folgten einem schmalen Hohlweg, rechts und links gesäumt von grauen Wällen aus Stein. Schließlich deutete Sebastian mit einem Kopfnicken nach vorn.
    Vor ihnen öffnete sich der Weg zu einem Felsplateau; darüber thronte, wie der bucklige Leib eines schlafenden Drachen, der Umriss einer Burgruine. Es gab weder Absperrungen noch Verbotsschilder. Von den ehemaligen Mauern und Türmen war kaum mehr geblieben als die vage Idee einer steinernen Befestigung. Carsten erkannte einen soliden Torbogen und die Reste eines Bergfrieds. Die Erbauer der Anlage hatten die natürliche Umgebung in ihre Planung einbezogen; da waren Felskronen, die zu ausgewaschenen Zinnenkränzen gehauen waren, und formlose Löcher im Gestein, in denen er die Fenster künstlich angelegter

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