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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte. Eine Weile lang hatte er erwogen, die Aktion abzubrechen und auf morgen zu verschieben. Aber das hätte ihren Zeitplan durcheinandergebracht.
    Gegen Viertel vor eins waren sie endlich verschwunden. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen. Falls jemand die nächtlichen Friedhofsbesucher bemerkt hatte, so schienen sie ihm gleichgültig zu sein. In keinem Fenster brannte Licht, nirgendwo erschien ein Gesicht im Dunkeln. Die Menschen schliefen.
    Trotzdem wartete Niklas eine weitere Stunde, bis das Feuer ausgebrannt war. Er konnte nicht riskieren, dass ein Passant den Papierkorb löschen und ihn selbst an der Ausführung seines Auftrags hindern würde.
    Er trug schwarze Jeans und einen schwarzen Blouson, dessen Reißverschluss er bis zum Hals hinauf zugezogen hatte. Das Haar hatte er unter einer dunklen Perücke verborgen und sein Gesicht mit ein paar simplen Schminktricks verändert. Dunkle Ringe unter den Augen vermittelten den Anschein von Tränensäcken, die Filterkapseln in seinen Nasenlöchern machten seine Nase flach und verbeult wie die eines Boxers. Bis zuletzt hatte er mit dem Gedanken gespielt, auf die Kapseln zu verzichten; es war lange her, seit er sie zuletzt benutzt hatte, und das Atmen fiel ihm schwer. Jeder Luftzug rasselte in seinen Ohren, aber Nadine hatte ihm versichert, dass nur er selbst es hörte. Für andere war seine Atmung geräuschlos.
    Gegen halb zwei wurde das letzte Glimmen im Papierkorb von der Dunkelheit erstickt, und Niklas verließ seinen Beobachtungsposten. Er überquerte den kleinen Platz, der Kirche und den Friedhof wie ein Ring umschloss, huschte lautlos zwischen Kreuzen und Grabtafeln hindurch und presste sich in den Schatten, der über der halbrunden Hintertür lag. Ein letzter Blick auf die umliegenden Häuser. Niemand zu sehen. Stille. Nur in der Ferne das Donnern eines Wagens auf dem holprigen Pflaster einer Seitenstraße.
    Die Tür war kein Problem. Er hatte mit einem verräterischen Quietschen der Scharniere gerechnet, stattdessen aber ließ sie sich ohne jeden Laut öffnen. Winkler, der Mann, den er suchte, war ein gewissenhafter Küster. Gut für die Kirche, gut für Niklas. Schlecht für Winkler.
    Das Kirchenschiff lag in völliger Finsternis. Ein sanfter Hauch von Mondlicht erhellte die Fenster und ließ sie als fahle Umrisse hoch oben im Dunkeln schweben. Der Altar war kaum mehr als eine schwarze, formlose Masse, wie ein kauerndes Tier im Schatten, und über allem hing der spröde Geruch von erkaltetem Weihrauch.
    Die weichen Sohlen seiner Schuhe glitten ohne jedes Geräusch über die steinernen Fliesen, den Hauptgang entlang und rechts zwischen den Bänken hindurch bis zu einer schmalen Tür neben den Beichtstühlen. Dahinter lag die Sakristei. Von dort aus führte eine Treppe hinauf in die Wohnräume.
    Niklas kannte jeden Meter des Gebäudes. Die Recherchen der letzten Tage waren ungewöhnlich ergiebig gewesen. Die Tatsache, dass sie zu mehreren waren, hatte die Arbeit erleichtert. Jetzt warteten die anderen im Hotel auf ihn; die unerwartete Verzögerung würde ihnen Kopfzerbrechen bereiten. Keines ihrer Talente war für diesen Auftrag von besonderem Nutzen, daher zog Niklas die Sache alleine durch.
    Auf der Treppe zog er die .22er aus der Jackentasche und schraubte den Schalldämpfer auf. Ein kleines Kaliber, aber weder Größe noch Wucht der Kugel machten einen Treffer tödlich. Allein die Platzierung war von Bedeutung. Nadine hatte ihm zu einer Waffe mit längerem Lauf geraten; das größere Rohr fing einen Großteil des verbrannten Pulvers auf und sorgte für ein geringeres Mündungsfeuer und weniger Lärm. Trotzdem hatte er die kleinere Pistole gewählt, vor allem weil sie handlicher und weniger auffällig war. Und auch ein wenig, um sich Nadines Bevormundung zu widersetzen. Sie war die Einzige in der Gruppe, die durchschaut hatte, wie es wirklich um ihn stand. Er war zu alt und aus der Übung. Details bei der Ausführung der letzten Aufträge hatten ihn verraten. Keine wirklichen Fehler, doch Nadine war eine scharfe Beobachterin, der seine Schwächen nicht entgingen. Hier ein Geräusch zu viel, dort eine Reaktion, die einen Sekundenbruchteil zu spät kam. Keine echte Gefährdung, aber ein potentielles Risiko. Dass sie trotzdem mit niemandem darüber sprach, rechnete er ihr hoch an.
    Es war leicht, wie erwartet. Winklers Tür war nicht verschlossen. Der Küster lag mit dem Gesicht zur Wand im Bett und schlief. Zwischen Kissen und Decke war nur sein dunkles

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