Schweineblut
an die Winterabende bei
seiner Tante denken, an denen er sich in ihrem kalten Gästezimmer unter dem
Oberbett zusammengerollt und glücklich die Wärme gespürt hatte, mit der sein
Körper langsam das Bett aufwärmte.
Clemens Boshoven zog die Hand aus der Manteltasche und wischte sich
über die Augen. Er spürte die Tränen und dass seine Hand die alte
Wehrmachtspistole hielt.
Er starrte in das Wasser, das wie schwarzes Metall war. Nur wenige
Lichtpunkte tanzten auf der ruhigen Oberfläche. In seinem Inneren tanzten dazu
synchron die Noten von The times they are a-changing .
Er wunderte sich über die Kapriolen, die das eigene Ich manchmal schlug,
darüber, dass es Wege ging, die man nicht vorgesehen hatte und die doch
entscheidend waren. Diese jähe Erkenntnis hatte etwas Zynisches.
Das Leben war nicht das Ergebnis ausführlicher Analysen und
wohldurchdachter Versuchsanordnungen. Das Leben geschah einfach und entzog sich
damit jeglicher objektivierbaren Bewertung.
Seine Hand fasste die Pistole fester. Er würde nichts spüren. Er
würde den Lauf aufsetzen, abdrücken und sich gleichzeitig fallen lassen. Von
ihm würde nicht mehr als eine Ahnung bleiben, die kurz über dem Pflaster des Kais
verharrte, um ihm dann in die Unendlichkeit zu folgen.
»Wo mag sie sein?« Frank hatte gegenüber der Leitstelle eingeparkt,
machte aber keine Anstalten auszusteigen.
»Können wir die Frage nicht im Büro klären? Mir ist saukalt. Deine
Karre hat eine beschissene Heizung.«
»Ich bin so unruhig.«
»Viola macht schon keine Dummheiten.«
»Und warum hat sie Müllers Waffe mitgehen lassen?«
»Vielleicht aus einem Impuls heraus.«
»Das glaube ich nicht.«
»Lass uns ins Büro gehen.«
»Fahr nach Hause, Ecki. Ich komme allein klar. Du musst dir wegen
mir nicht die Nacht um die Ohren schlagen.« Frank hielt das Lenkrad mit beiden
Händen umfasst.
Er war bereit. Er wartete nur noch auf den Einsatzbefehl.
»Spinnst du?« Ecki sah Frank an. »Meinst du, ich lasse dich jetzt im
Stich? Wir ziehen die Sache gemeinsam durch.«
Frank sagte nichts. Aber er war Ecki dankbar.
Sie hatte sich minutenlang ruhig verhalten, hatte keinen
Schritt aus ihrer Deckung getan. Aber nun wollte sie nicht länger warten, sonst
fiel sie am Ende doch noch auf.
Das Gewicht der Waffe, das ihre Jackentasche nach unten zog, gab ihr
ein Gefühl von Überlegenheit. Sie würde sich nicht mehr verstecken müssen. Vor
nichts und niemandem. Nie, nie wieder. Sie würde ihre Feinde ausschalten, in
der Sekunde, in der man sie angegriff.
Die Straße war frei. Viola Kaumanns drückte sich entschlossen von
der Hauswand ab. Mit wenigen Schritten hatte sie die Fahrbahn überquert und
stand Augenblicke später vor dem Tor. Sie musste nur noch klingeln.
Seine privaten und geschäftlichen Angelegenheiten hatte er
geregelt. Der Brief lag auf seinem Schreibtisch. Er konnte abtreten. Er musste
sich keine Gedanken mehr machen. Trotzdem versuchte er vergeblich, ruhig zu
atmen. Dafür brauchte er einen Rest Kontrolle.
Clemens Boshoven hob die schwere Pistole an den Kopf und drückte den
schlanken Lauf gegen seine Schläfe.
Er atmete. Tief drang die kalte Luft in seine Lunge. Gleich wäre es
vorbei. Er würde schweben, und wenn er den Wasserspiegel erreicht hatte, würde
er frei sein.
»Das kann nicht sein.«
»Vor nicht mal einer Minute.«
Sein Puls raste. Er wankte.
»Frank!« Ecki schob beide Hände stützend unter Franks Achsel.
»Was sagt sie?« Frank hatte nicht die Kraft, zu schreien. Seine
Stimme verkroch sich unter seinen Schmerzen.
Der Leiter der Leitstellenbesatzung sah von seinen Bildschirmen auf.
»Ich schicke zwei Wagen hin.«
»Das wirst du schön bleiben lassen.« Frank schüttelte Eckis Hände
ab. »Ich will nicht, dass sie in Panik gerät.«
Das Gewicht der Hand schob sich gerade rechtzeitig zwischen
seine Gedanken, die nur noch Sekunden von ihrem Ziel entfernt waren.
»Geben Sie mir die Waffe. Es ist besser so.«
»Was?« Abwesend drehte Clemens Boshoven seinen Kopf.
Bevor er registrierte, was um ihn herum geschah, hatten sie ihm
schon die Pistole aus der Hand genommen.
»Es ist vorbei, Herr Boshoven.«
»Wer, wer sind Sie?« Die Bilder in ihm lehnten vergessen an einer
verwitterten Wand.
»Kommen Sie. Wir bringen Sie dorthin, wo Sie sicher sind.«
»Warum? Nein? Ich will nicht.« Clemens Boshoven hatte immer noch
nicht begriffen. Er fiel doch schon. So hatte er es entschieden. Und jetzt nur
Blau, das sich rhythmisch im Aluminium
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