Schweinehunde / Roman
sprang ohne Übergang zum nächsten Thema: »Heute Morgen war ich im Büro für eine Evaluierung mit einem Kunden. Die Kampagne läuft perfekt, und alle klopfen sich auf die Schulter. Sie verkaufen eine Unmenge nichtssagender Mädchenklamotten, und wir können einen weiteren Erfolg verbuchen und verdienen gemeinsam mit ihnen einen Haufen Geld. Aber keine Sau denkt an die acht kleinen Mädchen, die sich im Augenblick auf jeder Werbetafel und Litfaßsäule überall in der Stadt wie Bonbons feilbieten. Mein Gott, die sind kaum in der Pubertät, und … ja, ich weiß, es klingt heuchlerisch, denn wenn irgendwer für diese Kampagne verantwortlich ist, dann ich, aber ich habe das einfach nicht ausgehalten und mir für den Rest des Tages freigenommen.«
Der Regen wurde langsam schwächer. Er faltete seinen Regenschirm zusammen, schüttelte ihn aus und legte ihn neben den Stuhl, bevor er zögernd weitersprach.
»Das ist natürlich einer der Vorteile, sein eigener Chef zu sein. Man kann kommen und gehen, wann man will, und heute bin ich gegangen, ohne eigentlich zu wissen, warum. Wir haben schon so viele ähnliche Kampagnen gefahren, und die aktuelle ist wirklich nicht die schlimmste, so dass ich den Grund vermutlich bei mir suchen muss. Wahrscheinlich bin ich im Augenblick besonders sensibel.«
Die Kirchturmuhr schlug. Er stand auf, streckte die Beine, hockte sich neben dem Grabstein hin und entfernte ein paar nasse Blätter, die am Stein klebten. Danach folgten seine Finger mehrmals liebevoll der Inschrift.
Arne Christian Mørk. 1934–1979.
Während er sorgsam das bisschen Unkraut entfernte, das der Gärtner übersehen hatte, sprach er weiter mit dem Toten.
»Gestern hatte ich einen sehr bewegenden Abschied von Per, du weißt schon, Per Clausen, der Hausmeister, ich habe dir von ihm erzählt. Er ist ein phantastischer Mann, ich werde ihn vermissen. Zuerst haben wir gemeinsam gegessen und uns dann die Videosequenzen angeschaut, die ich zusammengeschnitten habe. Er hat mich sehr dafür gelobt, aber sie sind auch wirklich gut geworden. Besonders eine Szene aus dem Kleinbus ist phantastisch, eine kleine, satanische Perle, die die Menschen erschüttern und ihre Gemüter abhärten wird. Du wirst schon sehen, diese Szene wird noch eine entscheidende Rolle spielen. Es war Pers Idee, versteckte Kameras über jedem Sitz zu montieren, eine Wahnsinnsarbeit, die sich aber, wie sich jetzt gezeigt hat, wirklich gelohnt hat. Und dann haben wir über Gott und die Welt geredet, nicht nur über die kommenden Wochen, es war fast so, als wäre er zu einem ganz normalen Sonntagsbesuch bei mir gewesen. Ich kann mir kaum vorstellen, ihn nie mehr wiederzusehen.«
Ein Auto fuhr auf der Straße hinter dem Friedhof vorbei, und das dumpfe Dröhnen eines Basses störte für einen Moment die Grabesruhe. Er wartete, bis alles wieder still war.
»Als Per und ich uns verabschiedet haben, sagte er etwas, über das ich anschließend noch viel nachdenken musste.
Mach’s gut, Schaumgummimann.
Das waren seine letzten Worte an mich.
Schaumgummimann.
Er lächelte bei diesen Worten sein charakteristisches Lächeln. Natürlich spielte er darauf an, dass ich als Kind immer Schaumgummi gegessen habe, weil ich der Meinung war, dass dieses Zeug das Übel in mir aufsaugen könnte. Ich hatte fast vergessen, dass ich ihm erzählt hatte, wie ich mir überall kleine Schaumgummistückchen stibitzt hatte: Aus Polstern und Kissen, den Softbällen in der Turnhalle, dem Schweißriemen in meinem Reithelm, ja sogar aus Mamas Schulterpolstern habe ich Stückchen herausgeknibbelt. Wenn ich darüber rede, kommt mir auch wieder der Geschmack in den Sinn, dabei sollte man eigentlich gar nicht glauben, dass dieses Zeug überhaupt nach irgendetwas schmeckt. Aber das tut es, es schmeckt verkehrt, verkehrt und nach Schuld.«
Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu vertreiben, und fügte dann nachdenklich hinzu: »Die Erinnerung tut weh und … tja, Per trifft die Sache damit vielleicht ziemlich gut. Alles in allem betrachtet, bin ich vermutlich genau das – ein Schaumgummimann.«
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5
P rofessor Dr.med. Arthur Elvang, Rechtsmediziner und öffentlich bestellter Sachverständiger, war kein umgänglicher Mann. Konrad Simonsen bereitete sich mental auf die Begegnung mit ihm vor und war fest entschlossen, Kurs zu halten und sich nicht von der scharfen Zunge des Professors aus der Bahn werfen zu lassen. Sie trafen sich vor der Turnhalle, wo Arthur Elvang auf dem gleichen
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