Schwere Wetter
unbedecktem Kopf, die Hände auf dem Rücken. »Morgen werden wir den heftigsten Sturm der Geschichte verfolgen«, sagte er. »Er wird morgen losbrechen, wahrscheinlich gegen Mittag, und er wird Tausende, wahrscheinlich sogar Zehntausende von Menschenleben fordern. Wenn er stabil ist und ein paar Stunden andauert, könnten es auch Millionen sein. Wenn wir genug Zeit und Energie hätten und sich eine Gelegenheit böte, würde ich versuchen, Menschenleben zu retten. Aber das geht nicht. Wir haben keine Zeit, und wir verfügen über keine Autorität, daher können wir niemanden retten. Wir können nicht einmal uns selber retten. Unser eigenes Leben genießt morgen nicht die höchste Priorität.«
Die Menschen im Versammlungskreis machten keinen Mucks.
»Angesichts des furchtbaren Ausmaßes der morgigen Ereignisse zählt unser Leben nicht viel. Erkenntnisse über den F-6 sind wichtiger als jeder einzelne von uns. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber das ist die Wahrheit. Ich möchte, daß ihr die Wahrheit begreift und sie akzeptiert, ich möchte, daß ihr sie euch zu Herzen nehmt und euch entsprechend verhaltet. Leute, ihr habt alle die Simulationen gesehen, ihr wißt, worum es geht, wenn ich vom F-6 rede. Aber, Leute, das verdammte Ding bricht jetzt über uns herein. Es ist da, es ist real, keine Aufzeichnung diesmal, kein Scheinbild. Es ist so real wie ihr und ich. Wir müssen soviel wie möglich über den F-6 in Erfahrung bringen, um jeden Preis. Dieses furchtbare Ereignis muß dokumentiert werden. Morgen müssen wir diesem grauenhaften Ereignis soviel wie möglich von seiner Wahrheit entreißen. Selbst wenn wir alle dabei umkämen, würden einige Überlebende aufgrund unserer Arbeit doch die Wahrheit darüber erfahren, und das wird ein lohnender Preis für unser Leben sein.«
Jerry ging unruhig auf und ab. »Ich möchte morgen keinen Leichtsinn erleben. Amateure haben dabei nichts verloren. Also keine Dummheiten. Was ich von euch will, das ist die vollständige Einsicht in die Notwendigkeit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Wir haben nur eine einzige Chance. Das ist die größte Schwerwetterherausforderung, vor der unsere Truppe jemals stehen wird, und ich hoffe und glaube, daß sie Zeit unseres Lebens auch ein Einzelfall bleiben wird. Wenn ihr glaubt, euer Leben sei wichtiger, als diesen Sturm zur Strecke zu bringen, dann habe ich dafür Verständnis. Das ist eine kluge Entscheidung. Die meisten Leute würden sie vernünftig nennen. Ihr alle seid hier bei mir, weil ihr anders als die meisten Menschen seid, aber worum ich euch bitte, ist etwas Schreckliches. Das ist keine Sturmjagd wie jede andere. Das ist nicht irgendeine Schlechtwetterfront und irgendein Zacken. Dieses Ding ist der Tod, Leute. Das ist ein Vernichter, ein Weltenzerstörer. Das ist das Schlimmste, was menschliches Handeln seit Los Alamos hervorgebracht hat. Wenn euer Leben bei euch höchste Priorität genießt, dann solltet ihr das Camp unverzüglich verlassen. Ich sage ein Wetterereignis voraus, das um eine ganze Größenordnung schneller, massiver und heftiger ist als der stärkste F-5-Maxi-Tornado. Wenn ihr der Katastrophe entgehen wollt, solltet ihr auf der Stelle nach Osten fliehen und erst anhalten, wenn ihr am anderen Ufer des Mississippi angelangt seid. Wenn ihr aber bleibt, dann bleibt im klaren Bewußtsein, daß ihr kopfüber ins Verderben rennt.«
Niemand rührte sich. Niemand sagte etwas.
Auf einmal ertönte ein animalischer Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, ein trillerndes, jodelndes, jubilierendes Kreischen, als frohlockte eine Wahnsinnige über ihren soeben abgezogenen Skalp.
Der Schrei kam von Joanne Lessard. Alle blickten Joanne verwundert an. Joanne saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Stück Bubblepak in der Nähe des Lagerfeuers. Sie hatte sich soeben das blonde Haar gewaschen und kämmte es gerade. Sie sagte nichts, sondern blickte bloß strahlend in den flackernden Feuerschein, zuckte einmal die Achseln und kämmte sich weiter.
Selbst Jerry wirkte verblüfft.
»Das war alles«, wurde Jerry auf einmal klar, dann nahm er bedächtig Platz.
Rudy Martinez erhob sich. »Jerry, wirst du morgen den Nowcaster machen?«
»Ja.«
»Wenn Jerry die Wetteranalyse macht, dann gehe ich überall hin. Das war alles.« Rudy setzte sich wieder.
Joe Brasseur erhob sich. »Ich stehe jedem zur Verfügung, der noch nicht sein Testament gemacht hat. Ohne Hinterlassung eines Testaments zu sterben, das
Weitere Kostenlose Bücher