Schwere Wetter
daß sie selbst mit der eingebauten Computersteuerung kaum zu beherrschen waren. Dennoch schienen die Leute, die damit fuhren, einen Schutzengel zu haben. Sie waren ebenso schwer umzubringen wie Küchenschaben.
Dann war da noch die größte Gruppe, die unterschiedlichen Menschen, die einfach für Unwetter schwärmten. Die meisten beschäftigten sich nicht weiter mit Stürmen. Manchmal machten sie Fotos oder Videoaufnahmen, hatten ansonsten aber keinerlei intellektuelle oder professionelle Ambitionen. Sie waren halt Sturmfans. Manche waren sogar tief religiös. Einige posteten erbärmlich schlechte Lyrik ins Netz. Ein paar von ihnen waren höchst eigenwillige, mit Tätowierungen, Ketten und Kratzkunst geschmückte Leute, die Halluzinogene nahmen und/oder auf dem Höhepunkt der Krise in Bunkern wilde Orgien feierten. Ihr aller Markenzeichen waren eine inhaltslose Ernsthaftigkeit und seltsame Kleider- und Eßvorschriften.
Viertens waren da die Gauner. Leute auf der Suche nach der großen Chance. Plünderer, Schwarzmarkthändler, Einbrecher. Und natürlich auch Vandalen. Nicht gerade überwältigend viele, keine marodierenden Heerscharen, aber doch genug, um sich Sorgen zu machen. Wo immer sie auftraten, ließen sie seltsame Kreidezeichen zurück und trafen sich zum Currysuppe-Essen in leerstehenden Gebäuden.
Und schließlich waren da noch die Evakuierungsfreaks - zahlenmäßig stetig zunehmend und gleichzeitig die Gruppe, die Jane bei weitem am unerklärlichsten, widerlichsten und unheimlichsten war. Menschen, die erst nach dem Unwetter so richtig aufblühten. Menschen, die gerne in Evakuierungslagern lebten. Vielleicht waren sie während des Ausnahmezustands in so einem Lager aufgewachsen und trauerten der Erfahrung nun perverserweise nach. Oder sie genossen das ein wenig halluzinatorische, intensive Gemeinschaftsgefühl, das sich nach einer Naturkatastrophe jedesmal einstellte. Vielleicht brauchten sie aber auch die Katastrophe, um sich wirklich lebendig zu fühlen, weil sie unter dem drückenden Gewicht des schweren Wetters aufgewachsen waren und nie wirklich gelebt hatten.
Wenn man über keine starke Persönlichkeit verfügte, dann konnte man in einem Evakuierungslager alle möglichen Identitäten annehmen. Der Untergang einer Stadt oder eines Vororts brachte sämtliche auf gesellschaftlichem Status und Erfahrung beruhenden Barrieren zum Einsturz und steckte alle in den gleichen Papieranzug. Manche Leute - und es wurden immer mehr - genossen offenbar diese Situation. Sie bildeten eine neue soziale Schicht von Menschen, eine Mischung aus Scharlatan, Betrüger oder Gauner, etwas wirklich noch nie Dagewesenes, ohne Geschichte, ohne eigene Identität. Hin und wieder - eher häufiger - war der Evakuierungsfreak Herz und Seele des örtlichen Wiederaufbaus, eine manische, rotwangige, stets freundliche Person, die für jeden ein Lächeln übrig hatte, stets bereit, die Hinterbliebenen zu trösten, die Verletzten zu baden und stundenlang am Bett der dankbaren, verletzten Kinder zu sitzen und mit ihnen Faxen zu machen. Häufig gaben sich diese Leute als Pastoren, Sanitäter, Sozialarbeiter oder untergeordnete Regierungsbeamte aus, und damit kamen sie meistens auch durch, denn in dem ganzen Schrecken, dem Leid und der Verwirrung fragte niemand nach Papieren.
Sie blieben solange, wie sie sich trauten, aßen den Regierungsfraß, trugen Papieranzüge wie alle anderen und behaupteten vage, sie seien ›aus der Gegend‹. Seltsamerweise waren die Evakuierungsfreaks fast immer harmlos, zumindest in physischer Hinsicht. Sie stahlen nicht, sie raubten nicht, sie töteten nicht und sprengten nichts in die Luft. Manche waren zu benommen und zu verwirrt, um mehr zustandezubringen als herumzusitzen, zu essen und zu lächeln, doch recht häufig arbeiteten sie mit geradezu selbstloser Hingabe und inspirierten die Menschen in ihrer Umgebung, und die Menschen blickten zu ihnen auf, bewunderten sie, vertrauten ihnen bedingungslos und betrachteten diese hohlen Typen als Säulen der Gemeinschaft. Unter den Evakuierungsfreaks gab es sowohl Männer als auch Frauen. Ihr Tun war nicht unbedingt kriminell, und selbst wenn man sie erwischte, ermahnte oder bestrafte, schienen sie doch nicht damit aufhören zu können. Sie verzogen sich einfach zu einem anderen Katastrophengebiet in einem anderen Bundesstaat, zerfetzten ihre Kleider, beschmierten sich mit Dreck und taumelten als angeblich Betroffene in irgendein Lager.
Am seltsamsten dabei war,
Weitere Kostenlose Bücher