Schwerelos
Leben.
Kapstadt, den 31. Dezember
Mein Liebchen,
allerherzlichsten Glückwunsch zu deinem siebenunddreißigsten Geburtstag, meine schöne, kluge, geliebte Marie!
Es ist jetzt Mitternacht, und du sollst wissen, dass ich morgen um diese Zeit tot sein werde.
Die Nacht hier in Südafrika ist viel schwärzer als bei uns. Nicht unheimlich schwarz, sondern auf sympathische und entschlossene Weise schwarz. Ich war nie ein Freund der Dämmerung. Ist das noch Tag, oder ist das schon Nacht? Du weißt, ich mag lieber klare Ansagen.
Ich habe Joachim vor einem halben Jahr im Wartezimmer eines Berliner Krankenhauses kennengelernt. Wir verließen das Krankenhaus mit der Diagnose, dass wir nur noch wenige und nicht sehr angenehme Monate vor uns haben würden. Und darauf haben wir beide keine Lust.
Marie, mein Liebchen, erinnerst du dich an das etwas alberne Lied, das wir manchmal bei unseren Abschieden gesungen haben?
Man lässt vieles hier,
Freund, ich danke dir,
für den Kuss, den letzten Gruß.
Doch dann lass mich los,
sieh, die Welt ist groß,
ohne Freiheit bin ich fast schon wie tot.
Ich mag das Wort: Freitod. Es wird der Sache, meiner Sache gerecht. Freiwillig gehen, selbst entscheiden, wann es so weit ist, eine Sache, eine Liebe und auch ein Leben zu beenden.
Glaub mir, Marie, ich hätte gerne länger gelebt. Aber nur zu meinen eigenen Bedingungen.
Ich halte es mit den letzten Worten von Alexis Sorbas: «Ich habe in meinem Leben einen Haufen Dinge getan und doch nicht genug. Menschen wie ich sollten tausend Jahre leben. Gute Nacht!»
Also lass mich los, Liebchen. Sei nicht traurig und freue dich auf dein großartiges Leben.
Mein Anwalt wird dir diesen Brief an deinem Geburtstag zukommen lassen, zusammen mit einem Schlüssel. Du weißt, in welches Schloss er passt. Und jetzt weißt du auch, wofür ich Heinzelmanns Million ausgegeben habe.
Marie, ich möchte, dass du frei bist. Tu, was du willst, aber tu es aus freien Stücken. Und wenn du heiratest, tu mir einen letzten Gefallen und tanze auf deiner Hochzeit in meinen Schuhen! Ich habe sie reparieren lassen. Es wäre doch zu schade, wenn es die alten Dinger nicht wenigstens einmal bis zu einem Altar schaffen würden.
Gute Nacht, Rosemarie Goldhausen, sei mutig und glücklich.
Es liebt dich von ganzem Herzen
deine Tante Rosemarie
«La Grande Dame!»
Ich sitze auf dem Balkon. Und es ist, als hätte sich mir heute Nacht die ganze Welt zu Füßen gelegt.
Die Scheinwerfer der Ausflugsboote beleuchten das Ufer der Seine, und in den Straßencafés auf der Île Saint-Louis halten sich Verliebte die Hände.
Mein Verleger wollte meine Kündigung nicht annehmen. Er hat mir sogar mehr Geld und ein großes Eckbüro mit Blick auf die Außenalster angeboten. Ich habe abgelehnt.
Leonie, Joseph, Erdal und Karsten kommen mich in zwei Wochen besuchen. Joseph hat gestern zum ersten Mal gelächelt. Aber weil Erdal und Karsten mal wieder beide gleichzeitig damit beschäftigt waren, ihn zu wickeln, können sie nicht genau sagen, wen von beiden er angelächelt hat.
Leonie möchte noch ein Kind. Am liebsten von Karsten.
Frank hat mir die Betriebskostenabrechnung für unsere Wohnung geschickt.
Michael Conradi hat mir aus einem Dorf in Andalusien das erste Kapitel seines Romans gemailt. Es ist großartig.
Regina fühlt sich unausgelastet und bat mich, ihr einen guten Pilates-Trainer zu empfehlen.
Der FC St. Pauli ist wieder vom Abstieg in die Zweite Liga bedroht.
Die Wohnung ist völlig leer. Bloß die beiden Klappstühle stehen noch auf dem Balkon. Als sei keine Zeit vergangen.Ich lege meine nackten Füße aufs Geländer und stelle eine Flasche Champagner auf den leeren Stuhl neben mir.
La Grande Dame. Die große Dame.
Keine Stadt sieht nachts so schön aus wie Paris. Ob ich hier wohl einen guten Frisör finde?
Rosemarie Goldhausen, auf unser Wohl!
Menschen wie du sollten tausend Jahre leben.
Ich schlage das Tantenbuch auf.
Wie schön, dass du da bist …
Quellenverzeichnis
Hurra, hurra, die Schule brennt – Extrabreit
Komposition & Text: Schlasse, Kai/Sperling, Gerd
Arabella Musikverlag GmbH & Lambada Musik- und
Beteiligungsgesellschaft mbH
Ich war noch niemals in New York – Udo Jürgens
Komposition: Udo Jürgens
Text: Michael Kunze
Melodie der Welt
J. Michel KG Musikverlag
Ich liebe das Leben – Vicky Leandros
Komposition & Text: Leo Leandros/Klaus Munro
Hanseatic Musikverlag GmbH & Co.
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