Schwester der Finsternis - 11
wollte Cara wissen.
Kamil tat ihre Besorgnis mit einer Handbewegung ab. »Ich werde mich auf die Treppe am Eingang setzen und nach Nicci Ausschau halten. Ihr beide könnt hier drinnen warten, wo Euch niemand sieht. Sobald ich Nicci die Straße heraufkommen sehe, komme ich her und warne Euch. Ich kann Euch jederzeit zum Hintereingang hinausschaffen, wenn ich sie nach Hause kommen sehe.«
Kahlan legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie leicht.
»Hört sich gut an, Kamil. Wir werden hier im Zimmer warten.«
Kamil eilte nach draußen, um seinen Posten zu beziehen. Kahlan sah sich in dem aufgeräumten Zimmer um.
»Warum schlaft Ihr nicht ein wenig«, schlug Cara vor. »Ich werde Wache stehen. Ihr habt schon die letzte Wache übernommen.«
Kahlan war erschöpft. Ihr Blick fiel auf die Schlafstätte gleich neben Richards Sachen, dann nickte sie und legte sich auf sein Bett. Es wurde dunkel im Zimmer. Einfach nur dort zu liegen, wo er geschlafen hatte, war ein tröstliches Gefühl. Ihm so nahe zu sein, und doch so fern, machte es ihr allerdings unmöglich, einzuschlafen.
Nicci verzagte, als sie sah, dass Richard nicht in ihrem Zimmer war. Kamil war auch nirgends zu finden. Draußen auf der Baustelle, wo sie all die Menschen gesehen hatte, die gekommen waren, um Richards Statue zu bestaunen, hatte sie sich noch so gut gefühlt. Die Menschen waren in Scharen herbeigeströmt, um sie zu sehen und moralisch aufgerichtet zu werden.
Einige hatten sich wegen ihr verärgert gezeigt, und ausgerechnet sie hatte Verständnis dafür. Trotzdem konnte Nicci kaum glauben, wie hasserfüllt manche Menschen auf diese Schönheit reagiert hatten. Manche Menschen verabscheuten das Leben, auch das verstand sie. Es gab eben Menschen, die sich weigerten, die Augen aufzumachen – die sie gar nicht aufmachen wollten.
Andere wiederum hatten ganz ähnlich reagiert wie sie.
Jetzt war ihr alles klar; zum ersten Mal in ihrem Leben machte das Leben einen Sinn. Richard hatte es ihr zu erklären versucht, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie hatte die Wahrheit auch früher schon vernommen, aber andere – ihre Mutter, Bruder Narev, der Orden – hatten sie niedergeschrien und sie moralisch unter Druck gesetzt, nicht auf sie zu hören.
Ihre Mutter hatte sie gut abgerichtet, und vom ersten Tag ihrer Begegnung mit Bruder Narev an war Nicci eine Soldatin in der Armee des Ordens gewesen.
Beim Anblick der Statue hatte sich ihr endlich – ganz unvermittelt und in aller Klarheit – jene Wahrheit offenbart, die zu erkennen sie sich stets geweigert hatte. Dies war die gültige Vision des Lebens, nach der sie so gedürstet hatte und der sie ihr Leben lang aus dem Weg gegangen war.
Jetzt begriff sie, warum ihr das Leben so leer, so sinnlos erschienen war; sie selbst hatte es mit ihrer Weigerung nachzudenken dazu gemacht. Nicci war eine Sklavin aller Bedürftigen gewesen. Sie hatte ihren Herren und Meistern die einzig wirkliche Waffe gegen sie selbst an die Hand gegeben; sie hatte sich ihren verdrehten Lügen preisgegeben, indem sie sich die lähmenden Ketten ihrer Schuld eigenhändig um den Hals gelegt und sich aus freien Stücken den Launen und Begehrlichkeiten anderer sklavisch unterworfen hatte, statt ihr Leben so zu leben, wie sie es hätte tun sollen – für sich selbst. Nie hatte sie nachgefragt, wieso es für sie rechtens war, eine Sklavin der Wünsche anderer zu sein, aber keine Sünde, dass die anderen sie zur Sklavin machten. Sie trug nicht zur Besserung der Menschheit bei, sondern war nichts weiter als die Dienerin zahlloser kleiner, winselnder Tyrannen. Das Böse war kein großes, einheitliches Etwas, sondern zeigte sich in einer endlosen Flut aus kleinen Ungerechtigkeiten, denen man nichts entgegensetzte, bis sie schließlich zu Monstren anwuchsen.
Ihr ganzes Leben lang war sie auf trügerischem Treibsand gewandelt, wo man Vernunft und Intellekt nicht trauen konnte, wo nur der Glaube Gültigkeit hatte und blinder Glaube heilig war. Sie selbst hatte der geistlosen Anpassung an diese sündhafte Nichtigkeit Geltung verschafft.
Sie hatte geholfen, alle zusammenzubringen, sodass die schlimmsten aller Menschen ihnen im Namen der Rechtschaffenheit gewissermaßen ihre Leine um den gemeinsamen Hals legen konnten.
Richard hatte, für alle sichtbar, auf ihr Bollwerk aus dreisten Lügen mit einer einzigen aufrichtigen Aussage der Schönheit geantwortet und diese noch durch die schlichten Worte auf der Rückseite der Sonnenuhr
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