Schwester der Finsternis - 11
konnten sie Stöhnen und Klagelaute hören. Den Grund dafür vermochte Kahlan nicht zu erkennen, aber offenbar ließen die Menschen auf dem Vorplatz ihren Tränen freien Lauf. Merkwürdigerweise hörte man auch einige Menschen fröhlich lachen. Ein paar wenige fluchten, als hätte man ihnen gerade mit vorgehaltenem Messer ihre gesamten Ersparnisse geraubt.
Während sie sich langsam die Stufen hinaufbegaben, versuchten Kahlan und Cara hinter den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung Deckung zu suchen, um die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Der Vorplatz oberhalb von ihnen war von Dutzenden von Fackeln erleuchtet, deren flackerndes Licht einen Eindruck von der Größe der Menschenmenge vermittelte. Der Geruch brennenden Pechs vermischte sich mit dem abgestandenen, säuerlichen Schweiß der dicht gedrängten Menschenmassen.
Als sich im Gedränge vor ihr vorübergehend eine Lücke auftat, erhaschte Kahlan einen kurzen Blick nach vorn. Was sie dort sah, versetzte sie in Erstaunen, aber beinahe ebenso schnell, wie sie es gesehen hatte, war es auch wieder hinter der Menschenmenge verschwunden. Die Menschen vor ihr weinten – einige, dem Klang nach zu urteilen, vor Freude.
Kahlan begann die höflichen Stimmen von Männern zu unterscheiden, die die Menge baten, nicht stehen zu bleiben, und sie geradezu beschworen, anderen ebenfalls eine Chance zu geben. Die bunt zusammengewürfelte Menschenansammlung schob sich auf die weiße Marmorfläche des Vorplatzes wie Bettler bei einer Krönungszeremonie. Schließlich, als die Sonne über dem Horizont aufging, wich der Schein der Fackeln dem Licht eines strahlend hellen Tages. Die Fassade des Palastes wurde in goldenes Sonnenlicht getaucht.
Die in Stein gemeißelten Szenen am oberen Mauerrand waren verstörend. Falls sie sich in irgendetwas von all den anderen unterschieden, die sie in der Alten Welt gesehen hatten, dann höchstens darin, dass sie noch grausamer und erschreckender, von einer noch verzweifelteren Hoffnungslosigkeit erfüllt und noch übertriebener waren.
Kahlan ließ ihre Gedanken über die Konturen ihrer Statuette Seele wandern. Die Vorstellung, dass man Richard zwang, Dinge in Stein zu meißeln, wie sie sie oben auf der Mauer gewahrte, erfüllte sie mit Abscheu.
Sie spürte, wie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit sie überkam. Das war es, wofür der Orden stand: Schmerzen, Leid und Tod. Das war es, was die Neue Welt durch die Hand dieser Barbaren zu erwarten hatte. Sie konnte ihre Augen nicht von den Szenerien an den Wänden lösen, von dem Schicksal, das die Menschen ihrer Heimat erwartete – jenes Schicksal, das so viele blinden Auges willkommen hießen.
Dann, als die Menschen um sie herum und an ihr vorüberschlurften, fiel ihr Blick völlig unvermittelt auf die weißen Marmorfiguren, die sich vor ihr erhoben. Der Anblick raubte ihr den Atem und ließ sie aufstöhnen. Die Strahlen der morgendlichen Dämmerung beschienen sie, so als wäre die Sonnen eigens aufgegangen, um ihre erhabenen Formen in ihrer ganzen Herrlichkeit zu umschmeicheln.
Caras Finger gruben sich schmerzhaft in Kahlans Arm, als auch sie von dem Anblick ergriffen wurde. Die Statue des Mannes und der Frau überwältigte mit ihrer geistigen Größe Kahlans Fantasie.
Sie fühlte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, dann brach sie, wie die Menschen ringsherum, angesichts der Erhabenheit, Würde und Schönheit dessen, was dort vor ihr stand, ganz offen in Tränen aus. Die Statue war all das, was die Bildhauerarbeiten an den Wänden ringsum nicht waren. Großzügig und in aller Offenheit bot sie alles dar, was jene verwehrten.
LEBEN stand auf dem Sockel geschrieben.
Kahlan, unter Tränen, musste schwer nach Atem ringen, um wieder Luft zu bekommen. Sie klammerte sich an Caras Arm und Cara an ihren, und so hielten sie sich beide aneinander fest, um sich zu stützen, als sie von der Menge in einem Strom allgemeiner Gefühlsaufwallung mitgerissen wurden. Der Mann in der Statue war nicht Richard, hatte aber große Ähnlichkeit mit ihm. Die Frau war nicht Kahlan, aber sie war ihr ähnlich genug, dass Kahlan merkte, wie sie vor den anderen, die sie ebenfalls sahen, errötete.
»Bitte schaut sie Euch an und geht dann weiter, damit die anderen auch einen Blick auf sie werfen können«, wiederholten die etwas seitlich stehenden Männer ein ums andere Mal. Sie trugen keine Uniformen und sahen ebenso abgerissen aus wie alle anderen. Es schienen ganz gewöhnliche Bürger zu sein, die
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