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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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schmückte, war ausgeschaltet. Der Flur zum Seitentrakt mit Cafeteria und Blumenhandel drohte ihn mit einem finsteren Maul zu verschlucken. Die hektische Betriebsamkeit der Besucher war einer gespenstischen Stille gewichen, die nur gelegentlich von der Alarmsirene auf einer der Stationen durchbrochen wurde. Aber davon ließ er sich nicht stören, nicht wenn er in ein Buch versunken war.
    Seit zwei Tagen fesselte ihn Stephen Kings Sie, und wenn ihn in dieser Nacht kein Einsatz der Ambulanz aus seiner Pförtnerstube zwang, würde er nicht mehr allzu lange bis zum Ende brauchen. Grusel für die Zeit nach Mitternacht. Es gab Stunden, da liebte Karl Müller seinen eintönigen Job als Nachtpförtner im Jüdischen Krankenhaus.
    Er vertiefte sich wieder in das Buch, bis ihn ein Rascheln aufschreckte. Zuerst glaubte er, dass sein Unterbewusstsein ihm einen Streich gespielt und sich die Fiktion mit einem Geräusch draußen von der Straße verknüpft hatte. Dann sah er die alte Dame, die wie ein Gespenst die Dunkelheit im Foyer durchquerte. Sie war alt, mindestens siebzig, wenn nicht noch älter. Trotzdem hielt sie sich aufrecht, doch es schien sie sehr viel Kraft zu kosten. Sie trug braune Schnürstiefel zu ihrem Nachthemd, einen dicken roten Schal und einen langen Mantel, den sie gerade über ihrem gebrechlichen Körper zuknöpfte.
    Manche Leute sind wirklich völlig verrückt. Unweigerlich musste Karl Müller an Annie Wilkes denken und schmunzeln. Alte Frauen, unglaublich! Er legte das Buch zur Seite und verließ die Glaskabine.
    »Hallo Sie«, sagte er freundlich, aber bestimmt. »Wo wollen Sie hin?«
    »Ich gehe!«, erwiderte sie leise, aber mit ebensolcher Entschlossenheit, als sei nichts Ungewöhnliches daran, dass eine Siebzigjährige in einer Nacht, für die erneut heftiger Schneefall erwartet wurde, in Nachthemd und dünnem Mantel versuchte, ein Krankenhaus zu verlassen.
    Er stand jetzt vor ihr und revidierte seinen Eindruck: Sie war nicht nur alt, sie war uralt. Ihr bleiches Gesicht war eingefallen, voller Falten und Runzeln, ihr weißes Haar hing wirr vom Schädel.
    »Sie können nicht einfach gehen«, meinte er. Wie in Gottes Namen hatte sie es an der Schwester vorbei und fast bis zum Haupteingang geschafft? Aber manchmal gelang es den Patienten. Kaum kehrte man ihnen den Rücken zu, schon waren sie verschwunden, fort über alle Berge, in ihr ehemaliges Haus oder zu den Kindern, die sie am nächsten Morgen wieder im Krankenhaus abliefern würden.
    Die Greisin vor ihm machte den Eindruck, als würde sie es nicht einmal mehr bis zur S-Bahn-Station schaffen. Sie schaut aus wie ein Gespenst. Ja, das war es: Irgendetwas an ihr wirkte, als sei sie bereits tot. Er spornte sich zur Eile an, nicht nur weil er wissen wollte, wie die Geschichte von dem Schriftsteller und seiner durchgeknallten Retterin weiterging. Er wollte auf keinen Fall, dass die alte Dame hier vor seiner Pförtnerloge zusammenbrach.
    »Sie dürfen nicht hinaus«, sagte er. »Kommen Sie schnell, Sie müssen zurück in Ihr Bett.« Er setzte sie auf einen der Besucherstühle im Foyer und räumte vorsichtshalber eine Vase mit Pflanzen beiseite. »Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich rufe eine Schwester. Dann wird alles wieder gut.«
    Die alte Frau saß auf dem Stuhl und sah ihn an. Sie hatte aufgehört, ihren Mantel zuzuknöpfen. Er bemerkte, dass sie Angst hatte. Nicht das fast angenehme Gruseln, welches man verspürte, wenn man des Nachts in aller Stille einen Horrorroman las und von einem Rascheln neben sich aufgeschreckt wurde. Es war nackte, kreatürliche Angst, so stark, dass auch ihm mulmig zumute wurde.
    »Es ist so weit«, sagte die alte Frau.
    »Was?«, fragte er, aber er wollte die Antwort gar nicht hören. Alten Menschen im Krankenhaus, die davon faselten, dass es so weit sei, war der Tod auf der Spur. Er hatte davon gelesen; es gab Leute, die mit überraschender Klarheit erkannten, dass ihr Augenblick gekommen war. Das mulmige Gefühl in seiner Magengegend verstärkte sich.
    »Warten Sie«, sagte er und eilte in seine Kabine. »Ich rufe die Schwester.«
    Er griff zum Telefon und wählte die Nummer, da hörte er ein Geräusch hinter sich. Er drehte sich um. Die alte Frau stand über ihm, die Augen vor Anstrengung zusammengekniffen, der Mund schlitzschmal. Sie hielt die Hände über dem Kopf, das lange graue Haar fiel ihr über die Schultern. Er schaute hoch, um zu sehen, was sie da hielt, eben noch rechtzeitig, um die schwere Glasvase zu erblicken, die

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