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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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das mochte in dem kalten Zwielicht auch eine Täuschung sein.
    Nein, hier würde niemand mehr leben wollen. Es existierte nur noch der Tod. Und selbst der schien weitergezogen zu sein. Dieser Ort war so kalt und leer, selbst der Leibhaftige hätte im Vergleich dazu noch warm und lebendig gewirkt. Sie erinnerten sich an die Gestalt, der sie beim letzten Mal gegenübergestanden hatten, dieses gewaltige Wesen in der Dunkelheit. Jetzt war es weg und hatte alles andere mitgenommen. Alles.
    Erneut schritten sie über einen Friedhof. Ihre Augen fanden die Grabsteine, die wie faulig schwarze Zähne aus dem hart gefrorenen Erdboden ragten. Eduordo Ritz lasen sie, als der Wind den Schnee fortblies. Und Lisa. Auch wenn ihnen die Namen nicht immer etwas sagten, sie klangen vertraut. Paul Griscom. Eleonore Berder.
    Sie mochten nicht mehr hinschauen, zu unangenehm war die Entdeckung dieser Namen. Das eisige Nichts ließ ihre Glieder erstarren. Der Friedhof war kein guter Ort für einen Spaziergang alleine in der Finsternis.
    Aber sie waren nicht alleine. Es gab immer noch sie beide. Sie und ihn. Sie wunderten sich nicht darüber, dass es den anderen neben ihnen gab. Sie akzeptierten es, wie man die Erlebnisse in einem Traum hinnimmt. So unglaublich er sein mag, man denkt nicht weiter drüber nach. Ein Traum folgt seiner eigenen Logik. Außerdem hatten sie sich schon einmal gesehen. Wie lange war das her? Sie konnten sich nicht erinnern, genauso wenig wie sie wussten, was sie hier zu suchen hatten. Sie wussten nur, etwas hatte sie beim letzten Mal entrissen.
    »Bleib bei mir«, sagte sie.
    »Ich bleibe bei dir«, antwortete er.
    Sie spürte, wie seine Hand durch die Dunkelheit zu ihr fand. Sie war kalt, so kalt. Sie legte ihre zitternden Finger zwischen seine. Sanft erwiderte er die Berührung, eine warme, beruhigende Geste, obwohl er sich selbst so fürchtete, dass er glaubte, sein Herz würde jeden Augenblick stehen bleiben. Doch das wollte er nicht zugeben, nicht jetzt vor ihr. Sie ahnte, dass er Angst hatte, noch viel mehr als sie. Sie bewunderte ihn dafür, dass er es sich nicht anmerken ließ. Es war ein gutes Gefühl, nicht alleine zu sein.
    Sie hoben den Blick. Auch das Leben außerhalb dieser Welt war zerstört. Am Himmel waren keine Sterne zu erkennen. Aber nicht, weil Wolken den Blick auf sie verbargen. Da waren keine Wolken. Und da waren keine Sterne. Nur der Wind, der in einem fort tobte und Schnee auf eine zerstörte Welt peitschte. Schnee aus einem wolkenlosen Himmel. Welch unvorstellbares Inferno musste hier gewütet haben?
    Sie wollten weitergehen, weg von diesem Friedhof, obwohl sie nicht wussten, wohin sonst. War diese Welt nicht ein einziger Friedhof? Vielleicht war der Schnee sogar eine Gnade, indem er die Verwüstungen bald vollständig bedeckt haben würde. Sie setzten sich in Bewegung. Eine Böe traf sie, es war, als wolle sie sie zurückdrängen. Nein, sie trieb sie auseinander, plötzlich liefen sie in entgegengesetzte Richtungen.
    »Geh nicht…«, sagte er.
    »… schon wieder«, sagte sie.
    Ihre Füße bewegten sich nicht. Es zog sie voneinander weg. Der Sturm nahm zu. Er heulte und lachte, als würde er sie verspotten. Nur die verschlungenen Finger sorgten dafür, dass sie nicht wie Geschosse blindlings in die ferne Dunkelheit katapultiert wurden, weg von ihrem Gefährten. Sie klammerten sich aneinander, bis die Knöchel unter der Anstrengung zu schmerzen begannen.
    Der Druck auf die Finger verstärkte sich. Sie würden sich nicht mehr lange halten können.
    Sie schauten sich verzweifelt an und schauten durch sich hindurch. Es geschah schon wieder. Sie lösten sich auf. Sie zerfaserten wie ein Fernsehbild, nachdem man das Gerät ausgeschaltet hatte. Oder wie Schnee, der langsam zerschmolz.
    Plötzlich war da nur noch Schwärze. Nichts.
     
     
    Berlin
     
    Es ist unglaublich. Karl Müller mochte es nicht glauben. Doch es stand schwarz auf weiß geschrieben, und zwar in jenem Buch, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Er beugte sich hinab und las die Zeilen noch einmal. Nein, er hatte sich nicht verlesen. Annie Wilkes, dieses gottlose Weib, hatte dem armen Schriftsteller Paul Sheldon tatsächlich den Daumen abgesägt.
    Es gruselte Karl Müller bei dem Gedanken an diese Brutalität. Vielleicht war ein Gruselroman doch keine ideale Lektüre für die Nachtschicht in der kleinen Pförtnerkabine.
    Er blickte auf. Das Foyer lag schaurig dunkel vor ihm, selbst die Adventsbeleuchtung, die den Tannenbaum

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