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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Dabei waren viele von ihnen, junge Familien, Senioren oder geistliche Würdenträger, noch vor wenigen Minuten neben ihr her durch das sandige Watt gepilgert, von Lindisfarne zurück aufs Festland. Da hatten sie sich am Anblick des Bobtails erfreut, der zwischen Steinen und Muscheln ausgelassen umhergesprungen war. Als er jetzt mit Beatrice einen Sitzplatz teilte, rümpften sie die Nase. Wo kommen wir hin, wenn das jeder täte?, besagten die missbilligenden Blicke.
    Sollten sie doch schauen wie sie wollten. Beatrice hatte ganz andere Probleme. Ich habe gar nichts. Das ist mein Problem.
    Sie war nach Lindisfarne gereist, um ihrem Leben auf die Spur zu kommen. Doch was hatte sie auf der Insel in Erfahrung bringen können? Nur neue Fragen. Wie sollte sie sich an ihre Vergangenheit erinnern, wenn diese ein einziges großes Rätsel war? Und jetzt war ihre Tante tot. Nicht einfach gestorben. Das hätte sie vielleicht noch akzeptieren können. Jeder starb irgendwann einmal. Sogar sie selbst. Fast hätte Beatrice gelacht, weil der Gedanke so absurd war.
    Doch das Wissen, dass ihre Tante ermordet worden war, erstickte das Lachen in ihrem Hals.
    Sie betrachtete die Menschen in dem Bus. Eine junge Mutter stillte ungeniert ihr Baby. Ihr kleiner Sohn klimperte fasziniert auf einem Gameboy herum. Eine ältere Dame schlief, und ihr Kopf war gegen das Fenster gekippt. Ihr Mund stand sperrangelweit offen und entblößte den Blick auf einen zahnlosen Oberkiefer. Ein Geistlicher schaute von einem Buch auf, und sein Blick begegnete dem von Beatrice. Sie entsann sich, sein Gesicht auf dem Marsch durch den Tang und Schlick bereits gesehen zu haben. Er schien sich auch zu erinnern und nickte ihr freundlich zu, bevor er sich wieder auf das Buch konzentrierte.
    Der Reisebus fuhr durch die Nacht. Immer wieder tauchten Burgruinen aus der Dunkelheit auf, einige offenbarten sich in kunstvoller Beleuchtung, bevor sie wieder in die Finsternis abtauchten. Manchmal kamen sie an einem Cottage oder einer Farm vorbei, hinter deren Fenstern Menschen zu Tisch saßen, Fernsehen schauten oder vielleicht sogar bei Kerzenschein ein Buch lasen. Diesmal hielt die vorbeiziehende Umgebung nur wenig Faszination für Beatrice bereit. Sie verspürte Angst. Sie war auf dem Weg zurück nach London. Dort hatte zwar nicht alles begonnen, wie sie mittlerweile wusste, aber in der Stadt würde vielleicht alles ein Ende finden.
    Diejenigen, die Angela umgebracht hatten, waren noch auf der Suche. Wonach auch immer, sie würden nicht eher ruhen, bis sie in den Händen hielten, was sie begehrten. Beatrice hatte das ungute Gefühl, dass sie selbst den Schlüssel dazu besaß. Wenn das kein Grund war, Angst zu haben, was dann?
    Sie schloss die Augen, um ein wenig zu schlafen. Sofort sah sie Angela vor sich liegen, durchbohrt mit der Kaminzange. Sie sah ihre Mutter, alt und grau, umgeben von einer Schar halb nackter Kinder, die einen Reim sangen, der ihr vertraut und doch so fremd war.
    Sie öffnete die Augen und sah sich selbst in der Scheibe des Nachtbusses. Auch die anderen Reisenden spiegelten sich in dem Glas. Ein Großteil von ihnen war inzwischen eingedämmert. Sie fand erneut den Blick des Priesters. Er lächelte mit einem angedeuteten Nicken. Wenn nur der Rest der Welt so freundlich wäre.
    Wiesen und Felder glitten an ihr vorbei. Irgendwo dort draußen lag ihre Vergangenheit. Irgendwo.

Samstag
     
     
     
    Irgendwo
     
    Irgendwo standen sie, und es war dunkel. Die Welt lag verlassen. Zumindest glaubten sie, dass es die Welt war, auf der sie auch vorher gelebt hatten, auch wenn alles anders war, als sie es kannten. Auch war es anders als beim letzten Mal.
    Die Feuer waren erloschen. Statt Hitze schlug ihnen Kälte entgegen. Vor ihren Füßen zeichnete sich Asche ab. Dann erkannten sie, dass es nicht die Rückstände von Holz waren, das die Flammen genährt hatte. Es war Schnee, durchsetzt mit Dreck und Staub und Matsch.
    Niemand tanzte mehr, oder beschwor mit fremden Gesängen ein Wesen, dass durch die ewige Nacht schritt. Die Menschen waren nach Hause gegangen. Sofern man in dieser Welt noch von einem Haus reden konnte. Was immer hier geschehen war, es hatte alles dem Erdboden gleichgemacht. Das wenige Licht, das der Himmel herabschickte, ließ die geisterhaften Ruinen erkennen. Bleiche Steinkörper, zerfressen nicht nur von Brutalität und Gewalt, sondern auch vom bitteren Frost, der seine Zähne in die Gemäuer schlug. Hier und da glaubten sie Blut zu erkennen. Aber

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