Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
eigentlich nur der Giftzwerg. Leider vergisst sie darüber manchmal, Pause zu machen.
Obwohl ich meinen Beruf immer noch gerne ausübe, erfährt meine Unermüdlichkeit inzwischen doch gewisse Eingrenzungen. Es ist denkbar, dass ich nicht mehr dem klassischen Bild der Krankenschwester entspreche – ich bin weder unermüdlich noch grundsätzlich «lieb», und mein Privatleben ist mir heilig, denn immerhin habe ich eins. Und: Ich wollte eigentlich auch nie Krankenschwester werden!
Anfang der Neunziger sah ich mich nach diversen Fehlstarts, Fachabitur, dem unvermeidlichen Praktikum in einer Werbeagentur, Beginn einer Schriftsatzausbildung und vorzeitigem Rauswurf nach der Probezeit, blöden und unbezahlten Jobs genötigt, ein neues Kapitel aufzuschlagen, und das sollte nach Möglichkeit nicht «Fließbandjob in der Wurstfabrik» heißen. Weil ich ehrlich gesagt nichts Besseres zu tun hatte, besuchte ich einen zweiwöchigen Schwesternhelferinnenkurs. Dort saßen außer mir noch jede Menge Frauen, die einen Quereinstieg in die Altenpflege planten, weil die Kinder mittlerweile aus dem Haus waren und sie eine neue Aufgabe brauchten. Hier hofften sie, die dazugehörigen Grundlagen zu erlernen. Der Unterricht wurde von einer pensionierten Krankenschwester mit Quäkstimme gestaltet, die uns tatsächlich in weißer Krankenschwesterntracht begrüßte, obwohl sich ihr Job ausschließlich an der Tafel abspielte. In der zweiten Woche wurde das Ruder von einer ehemaligen Hausärztin übernommen, die aussah wie Maggie Thatcher und sicher seit mindestens dreißig Jahren niemandem mehr in den Hals geguckt hatte. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an die Unterrichtsinhalte erinnern, eines ist mir allerdings im Gedächtnis geblieben: Die Altenpflegerinnen in spe schalteten bereits beim Skelettsystem heillos überfordert ab.
Mit meinem aufgemotzten Zertifikat war ich nun befugt, mich als pflegerische Hilfskraft in Altenpflegeheimen zu bewerben, und fand innerhalb kürzester Zeit einen Job. Ich hätte mir das Ganze mit Sicherheit gespart, wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt: Es war der pure Horror. Beim Betreten des Seniorenheims prallte ich gegen eine Wand beißenden Uringestanks. Die oftmals leicht angetrunkene oder wenigstens verkaterte Heimleiterin pflegte die Übergaben regelmäßig likörselig grinsend mit ihren Urlaubsfotos zu stören, die Abfälle wurden im Hof direkt hinter der Küche gelagert, deren Tür in der Regel offen stand. Sechs demente Frauen waren in der obersten Etage untergebracht, wo sie niemand sehen konnte und sie die anderen Bewohner nicht mit ihren Marotten störten. Mehrfach wurden wir mit bizarren Überraschungen konfrontiert, wenn wir nach oben kamen: Dass die Bilder allesamt überkopf hingen oder zwei von ihnen ihre Kleider auf links gedreht trugen, erschien uns schon nicht mehr seltsam. Aber man konnte auch versehentlich in einen als «Tretmine» titulierten Kothaufen stolpern, weil die Gewissenhaftigkeit der examinierten Altenpflegerinnen zu wünschen übrig ließ. Sie ließen sich kaum dort oben blicken, um den Frauen beim Toilettengang behilflich zu sein, delegierten es aber auch nicht an das übrige Team, baten weder die zwei Krankenschwestern, die ein halbes Jahr vor der Prüfung die Ausbildung abgebrochen hatten, um Hilfe noch die diversen angelernten Hilfskräfte, wie ich eine war. Das Schlimmste war, dass ich keinen Beitrag zur Verbesserung leisten konnte, denn ich wusste ja gerade mal, wie man ein Bett frisch bezieht, in dem ein Mensch liegt. Behandlung von Druckgeschwüren? Fehlanzeige. Umgang mit Dementen? Ein Satz mit «x». Strukturierung des Arbeitsalltags? Hatte ich nicht gelernt – ich war Aushilfskraft, und die strukturiert nicht, sondern hat hinterherzudackeln. Im Grunde hatte ich in dem Schwesternhelferinnenkurs gar nichts gelernt, womit ich in diesem Heim irgendetwas anfangen konnte, und sah mich lediglich einer mafiösen «Scheißegal»-Struktur ausgeliefert, die lieblos und ohne jedes Konzept versuchte, die Existenz von ein paar alten und hilflosen Leuten zu verwalten. Ich verließ die Stätte des Horrors nach sechs Wochen mit einem guten Zeugnis, welches mir die Sekretärin ausstellte. Das Zeugnis war deshalb sehr gut, weil die Sekretärin mich mochte und nicht etwa, weil sie meine Arbeit beurteilen konnte.
Nach diesem Erlebnis gab es nun zwei Möglichkeiten: Ich lasse die Finger von der Pflege und setze meine Suche auf dem unwegsamen Gelände «Traumberuf»
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