Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Weile, bis das heilt. Haben Sie noch etwas Geduld.»
An dieser Aufbauhilfe ist erst einmal nichts auszusetzen, würde er nicht regelmäßig augenzwinkernd folgenden Satz anschließen: «Sie sind doch bei den Schwestern hier in den besten Händen!» Was soll dieses Gezwinker? Ja, der Patient ist bei mir in guten Händen, ob es die besten sind, kann ich nicht versichern. Aber meint der Chef wirklich meine pflegerische Kompetenz oder nur mein weibliches Erscheinungsbild?
Bei Frau Rose hingegen, der es immer schlechter geht, blättert der Chef ein bisschen in den Kurvenblättern herum, schüttelt kaum merklich den Kopf und überlässt die Lösung der anstehenden Probleme wortlos den Assistenzärzten.
Parallel zu diesem Defilee hat die Visite der Assistenzärzte begonnen und bringt beim Betreten der Zimmer die pflegerische Arbeit ein weiteres Mal ins Stocken. Allerdings ist die Stimmung ungleich besser, weil sich allein schon das Begrüßungsritual wesentlich demokratischer gestaltet: Es werden alle Patienten sowie das Pflegepersonal begrüßt. Zwar hängt die Art und Weise auch wieder von der Tagesform einzelner Visitenteilnehmer ab, im Großen und Ganzen aber ist die Stimmung erträglich.
Die strikte Trennung zwischen den Chefs und den Assistenzärzten zeigt zwar deutlich, wer hier der Herr im Ring ist, macht aber die Visite nicht effizienter. Vom Chef wird ja gar nicht erwartet, dass er alles detailgenau weiß, sondern eher, dass er sich einen Überblick über die aktuellen Geschehnisse auf der Station macht, um bei kniffligen Entscheidungsfindungen als kompetenter Berater fungieren zu können. Die hierfür wichtigen Informationen bekommt er theoretisch von denjenigen, die sich die ganze Nacht um die Patientenversorgung gekümmert und demzufolge die «informelle Macht» haben – von den Assistenzärzten und dem Pflegepersonal. Ihnen sollte er im Bedarfsfall auch den Rücken stärken. Anstatt sich aber ein Best of des Krankheitsverlaufs anzuhören und im Einzelfall seine Expertise zur Verfügung zu stellen, huscht er mit den anderen Chefs aus Chirurgie und Kardiochirurgie im Eiltempo durch die Zimmer, denn dieses Fluchtverhalten verschafft ihm einen klaren Vorteil: Er kann auf «Chefniveau» bleiben und muss sich nicht mit den Alltagsbanalitäten dieser Station herumärgern, geschweige denn eine Entscheidung in einem heiklen Fall treffen. Die einmal wöchentlich stattfindende Chefvisite ist längst nicht so prunkvoll wie damals auf der Normalstation. Niemand vom Pflegepersonal muss mehr einen mit Akten vollgestopften sperrigen Wagen durch die Abteilung schieben, denn die Patientenkurven befinden sich allesamt am Bett des Patienten, und vorher wird weder Budenzauber mit Röntgenbilddekoration noch Kaffeekochen betrieben. Auch gibt es keine Gewähr für meine Anwesenheit. Im Zweifelsfall helfe ich nämlich gerade der Bohnenstange beim Betten.
Nachdem die Tochter von Frau Rose in den Genuss der chefärztlichen Einschätzung gekommen ist, gibt sie sich Mühe, freundlicher zu sein. Herr Rose ist fassungslos.
«Das klingt ja alles gut und schön», überlegt er laut, «aber meiner Frau geht es ja trotzdem von Tag zu Tag schlechter.»
Da hat er recht. Da der Chefarzt seine Tochter auf den Höhenflug mitgenommen hat, erwidert sie bloß: «Vati, du hast doch gehört, dass der Chef gesagt hat, man soll die Hoffnung niemals aufgeben, und ich glaube, der Chef kriegt das alles wieder hin!» Das Problem in einer solchen Situation ist, dass die Angehörigen nicht unterscheiden können, ob die Sätze ausschließlich der Beruhigung dienen und ob es sich um eine realistische Einschätzung der brenzligen Lage handelt, in der sich Frau Rose unzweifelhaft befindet. Die Aussagen des Chefs dienen sowohl dem Chef als auch den Angehörigen als Tranquilizer, denn mit der Realität sind diese Erklärungen nicht zu vereinbaren. Zudem blenden die Angehörigen vollständig aus, dass das Pflegepersonal und die Ärztinnen und Ärzte vor Ort den wesentlich besseren Überblick über die Entwicklung bei Frau Rose haben, weil wir uns nonstop mit dieser Frau beschäftigen – im Gegensatz zum Chef, der höchstens ein paar Minuten vorbeischaut und lediglich so tut, als wäre er im Bilde. Hier bekommen ahnungslose Angehörige vorgegaukelt, dass es auch in der Realität so läuft wie in ihren Lieblings-Arztserien.
Als ich am nächsten Nachmittag zum Spätdienst erscheine, traue ich meinen Augen kaum: Frau Rose sieht aus wie eine Qualle.
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