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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Büttenpapier und ein paar Kuverts versteckten sich hier. Mit roter Tinte stand da in Blockschrift auf dem ersten Blatt: Üblerweise. Ich bemühte mich, auch das durchgestrichene Wort darunter zu entziffern. Es lautete: Üblicherweise. Ich wendete das Blatt und stieß ein Grunzen aus. Es handelte sich um eine Hochzeitsanzeige. Paul und Marie gaben bekannt, dass sie einander das Ja-Wort geben würden. Wie elektrisiert ließ ich los und das Billet fiel auf den Tisch zurück.
    Ich ging noch einmal ins Schlafzimmer zurück und öffnete wieder den Kasten. Bis auf ein blau-weiß gestreiftes Säckchen lag nichts drin. Ich nahm das Säckchen. Es klimperte in meiner Hand, ich legte es weg. Ich ging zurück zum Schreibtisch, zog eine Lade nach der anderen noch einmal auf, und es war und blieb alles ausgeräumt. Ich suchte in der Küche nach irgendwelchen Indizien für einen kolossalen Irrtum. Alles blieb, wie es war.
    Ich ging nicht noch einmal ins Schlafzimmer. Ich bekam keine Luft. Die Luft war dick und ich hatte das Gefühl, die Atemzüge stopften mir das Maul. Ich riss die Fenster auf, lüftete die Räume, ging zur Tür und nahm die kuvertierten Hauswurfsendungen und Broschüren. Ich setzte mich an den Küchentisch, sortierte und blätterte in den Hauswurfsendungen. Ich drehte das Wasser auf und trank direkt von der Leitung. Wenn ich schluckte, gab es ein Klicken im Hals, das mich an das Entsichern eines Revolvers erinnerte und an das klimpernde Geräusch im Wäschesäckchen. Wo zum Teufel war Marie hin? Seit wann stand diese Wohnung leer? Ich wartete an ihrem Küchentisch sitzend auf eine Erklärung für ihr mir entgangenes Verschwinden. Ich war doch immer wieder im Kaufhaus gegenüber gewesen. Sollte sie meiner subtilen Kontrolle entkommen sein, hätte ich noch ein paar Tage Zeit, um ihren Entschluss zur Vermählung zu korrigieren.
    Ich kramte in meinen Manteltaschen, zog einen Kaugummi heraus, enthüllte ihn, kaute, war müde, eine Nebenwirkung der Tablette. Zurück beim Kasten holte ich das Wäschesäckchen hervor und befühlte die Perlen, die aufgefädelt darin aufbewahrt waren. Ein Relikt aus dem Urlaub. Es gehörte Paul. Ein Spielkettchen, wie es in Griechenland und der Türkei gern von Männern in nachdenklichen Stunden verwendet wird. Ich ließ die Perlen durch die Finger gleiten. Ihr Klimpern und Klicken, wenn sie aufeinanderstießen, erklang wie eine Melodie, die zu Paul gehörte. Er konnte ja sehr zärtlich sein und trotzdem zielsicher und fest, verschlossen und gültig wie ein stilles Versprechen. Ich legte das Kettchen weg, denn Perle für Perle bezeugte jetzt nur mehr Lüge für Lüge.
    Ich nahm ein Kuvert vom Stapel Hauswurfsendungen und fächelte mir Luft zu, legte das Kuvert hin, öffnete es und zog einen Gutschein heraus. Er gehörte zum Altpapier, das Kuvert zum Restmüll. Ich studierte den Gutschein und die darauf abgebildete Nonne, die heiße Steine auf den entblößten Rücken einer Frau legte. Ich steckte den Gutschein in die Tasche. Berührte in meiner Tasche den Stoff des Pyjamas. Seine Flauschigkeit ließ mir meine Traurigkeit bewusst werden. Meine Schwester war verloren. Das trieb mir die Tränen in die Augen. Ich kaute an meinem Daumennagel, überlegte zu gehen und Marie zu vergessen. Was hatte ich ihr denn schon angetan? Und was hatte Paul uns angetan? Wieso kam denn niemand und störte mich hier bei meinen Durchsuchungen? Ich blieb sitzen. Auf Zehenspitzen abwärts zu gehen, bei den Postkästen vorbeizuschleichen und mit der Faust gegen das Fach von Marie zu donnern, um es zu knacken, hatte ich für später vor. Ich blickte auf und sah hinaus. Die Stadt war mir zu dunkel und ich fühlte mich trunken von der Tablette, torkelte. Die Übelkeit verstärkte mein inneres Verschmutztheitsgefühl.
    Ich stand am Fenster, beglotzte die Gasse, suchte Schatten zu durchdringen. So war wohl auch Marie am Fenster gestanden und hatte mich beim Beobachten beobachtet, wenn es mich in ihre Nähe getrieben hatte.
    Mit der Zeit hatte ich mich schon richtig zu Hause gefühlt in dieser Ecke da unten, neben dem Hintereingang des Geschäftes, in dem ich den hellblauen Pyjama plötzlich in der Tasche gehabt hatte, der Schuld unbewusst wie eine geisteskranke Kleptomanin. In dieser Gasse hatte ich mich oft aufgehalten, um Marie aufzulauern. Ich habe viele Stunden meines Lebens sehr nahe bei Marie verbracht.
    Sie hatte sich von mir verfolgt gefühlt, wenn ich drüben im Kleidergeschäft am Fenster stehend herüberlugte.

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