Schwestern der Angst - Roman
deshalb wirkte ich wohl unwirsch, als ich die Verkäuferin aufforderte, mir das blau getupfte Kleid in passenden Größen zu bringen. Ich brauchte drei Stück davon. Feminin und dennoch kindlich. Blau. Punkte.
„Neunjährige Mädchen mögen das nicht“, sagte die Verkäuferin. „Glauben Sie einer Mutter! Alle Freundinnen meiner Tochter verachten Kleider mit blauen Punkten. Kaufen Sie lieber Lack, das ist sexy.“
„Ihre Tochter tut mir leid“, sagte ich.
Die Verkäuferin schaute mich irritiert an.
„Lack“, sagte ich zur Erklärung, „tragen Nutten.“
„Meine Tochter ist neun und die meisten ihrer Freundinnen tragen Lack einfach so und passen hinein, wenn sie nicht schon aus dem Lack herausgewachsen sind“, sagte die Verkäuferin beleidigt.
„Ich bin auch Mutter“, sagte ich.
Die Verkäuferin war vielleicht Mitte zwanzig. Sie trug keinen Ring. Bestimmt Alleinerzieherin, immerhin Verkäuferin einer Ladenkette, die für Mode und Fairness garantiert. Trotzdem schlecht bezahlter Job und deshalb die billigen Lack-Leggins für die Tochter? Damit sie sich einen alten geilen Mann aufreißt? Die Luft war stickig, muffig vom Textilstaub. Mein Gesicht spannte. Das Neonlicht betonte die blau geäderte Haut rund um die Augen der Verkäuferin. Wie entsetzlich musste erst ich in diesem Licht aussehen?
Ich suchte nach anderen Klamotten. Das Kleid ließ ich mir einpacken und bezahlte. Dann wollte ich frische Luft schnappen, trat ans Fenster, öffnete es.
„Halt!“, rief die Verkäuferin hinter mir. Sie schüttelte gebieterisch den Kopf. Ich nahm das Kleid und verließ das Geschäft fluchtartig, um ihrem Machtbereich zu entkommen.
Ein paar Gören standen am Eingang herum und schüttelten weiße Milchkannen, Sparbüchsen. Die Kirche ist ein großer Bettelverein. Ich hasse das Betteln. Ich ziehe Wohltäterschaft aus freien Stücken vor und lasse mich ungern mit aufgezwungenen Schuldgefühlen erpressen. Ein schlechtes Gewissen ist Angst vor Strafe. Die Mädchen blockierten den Ausgang des Geschäfts, klimperten mit den Sparbüchsen. Der Lärm störte mich. Ich drängte mich an ihnen vorbei, um eine andere Filiale in noblerer Gegend aufzusuchen. Draußen lungerte ein junger Mann auf seinen Unterschenkeln hockend herum. Der Boden war nass vom Schneeregen und der Karton aufgequollen. Dieses Elend der Obdachlosigkeit belästigte mich. Ein Schild hielt er hoch und lamentierte mit singender Stimme. Auf dem Schild stand: Ich habe Hunger! Danke.
Ich spendete ein paar Cents und machte ihn auf das lächerliche „Danke“ auf seinem Schild aufmerksam. Bedankte er sich dafür, dass er Hunger hatte? Anstatt sich für meine Cents zu bedanken, kniff er die Augen zusammen.
Ich versteckte mich in der Menge vor seinem bösen Blick. Da schrie jemand hinter mir: „Haltet sie auf!“ Es war die Stimme der Verkäuferin, ich nahm sie noch wahr, wie sie mir nachhetzte. Ich begann zu laufen und mir schien, als ich ein Zigeunermädchen beinahe umrannte, dass die Göre ein „Schleich dich“ ausspuckte, weil ich ihre Blumen, die sie mir aufdringlich entgegenhielt, umknickte. Eigentlich mag ich Blumen. Gerührt ließ ich mich stoppen. Die kleine Rumänin überreichte mir die Rose mit dem gekappten Kopf und ich nahm sie an. Es war Ende November, kalt, ein grauer Dämmerzustand. Ich hätte das Mädchen ans Herz gedrückt, hätte sie nicht unter ihrem schäbigen Anorak den dicken Bauch einer Schwangeren gehabt. In gebrochenem Deutsch sagte sie: „Biiittte, Huuunger, Kiiind, Huuunger, Biiiittte.“ Ich spürte in mir ihre Tränen aufsteigen. Und als sie aus meinen Augen tropften, roch ich einen nassen Hund.
Ich schaute mich um. Im Werbespot, der am nächsten Tag zu drehen war, würde Hundefutter beworben werden, das auch für Menschen und Katzen geeignet war. Keinen Modediktaten, sondern echten Werten wurde so entsprochen. Liebe geht durch den Magen, sagt ein Sprichwort, und das gilt auch für Tiere und Schlüsselkinder. Liebe ist keine Ware, die man horten kann. Wir können jedoch Waren teilen und durch das Teilen entsteht Liebe.
Ich öffnete meine Handtasche, um Geld zu spenden. In diesem Augenblick schrillte der Alarm des Kaufhauses. Ich suchte das Portemonnaie in der Tasche. Es war nicht da. Als ich aufschaute, war die Zigeunerin weg. Mein Herz klopfte bis zum Hals und trommelte in den Ohren. Ich fühlte mich verloren, nicht wegen des vermutlich von dem Mädchen gestohlenen Portemonnaies, sondern weil in meiner Handtasche der Pyjama
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