Schwestern der Angst - Roman
lag. War ich eine Diebin? Hatte ich ihn gestohlen? Selbstverständlich bezog ich das Sirenengeheul auf mich.
Die Hetzgasse lag auf der Rückseite des Kaufhauses. Diese Gasse wollte ich eigentlich meiden. Hier wohnte Marie. Ich geriet jedoch auf der Flucht vor dem Security-Personal in die Schlucht. Schmale und unsympathisch feucht glänzende Fenster gliederten die sonst matte Fassade. Ich versteckte mich in einem der gegenüberliegenden Hauseingänge vor den Detektiven. Eine dunkelschlündige Gegend. Hier trieben sich neuerdings Drogensüchtige herum. Marie sollte hier nicht wohnen.
Ich hatte mir zwar verboten, Marie zu bewachen, aber heute konnte ich nichts dafür, ich landete zufällig hier. Punkt sieben Uhr würde das Sicherheitspersonal die Suche nach mir aufgeben. Der Blick ist nur während der Dienstzeit auf Diebe gerichtet, sie abzuschrecken, zu orten und zur Strecke zu bringen, ist ein Prozess, der auf einen Schlag endet, wie auch jedes Leben einmal auf einen Schlag aus ist. Ab sieben Uhr wäre ich den Sicherheitsleuten egal. Dann galt die Aufmerksamkeit allen Einkäufern, die fallweise kontrolliert werden mussten, wenn sie das Geschäft verließen, oder daran gehindert werden mussten, es nach Geschäftsschluss noch zu betreten.
Ich wartete und las die Namen auf dem Klingelbrett. Da streifte mich mein Blick im spiegelnden Metall. Das Gesicht wirkte frisch, die Haut durch die Aufregung gut durchblutet. Ich hatte nur ein geiferndes Grinsen aufgesetzt, das sonst an mir nicht üblich war. Der Unterkiefer war vorgeschoben, die Zahnreihe bloßgelegt und die Oberlippe geschürzt, wie bei einem angriffslustigen, bissigen Tier. Die ganze Partie wirkte aufgemalt. Ich erinnerte mich an einen Nussknacker. Hässlich auszusehen ist ein Grund, nicht sich, sondern alle umzubringen, die einen so sehen. Ich fiel in meine dunkle Tonart und brummte mir zu: Entspanne dich.
Ein Fenster schlug irgendwo zu. Geklirre. Der Alarm des Kaufhauses schrillte noch, gedämpft hörte man ihn, dann schwoll er ab. Stille. Abrollgeräusche der Räder auf der nassen Straße. Zischen. Zischen. Zischen. Unten am Kai. Der Blick fiel auf die Fenster von Maries Haus. Die Fenster waren geschlossen. Tote Augen. Die Schwärze warf sich auf mich. Ich blickte mich um. Kein Mensch. Kein Hund. Dafür Scheiße am Boden. Ich trat vor und spähte hinauf.
Die Fenster begannen zu schimmern, als antworteten sie meinem Blick, als hießen sie mich willkommen. Regen. Glitzer. Reflexionen irgendwelcher Lichter. Rotes Blinken. Grünes Blinken. Am Ende der Gasse rauschten die Autos durch den schmalen Ausschnitt zwischen den Häuserfronten. Die Geschäfte schlossen. Ich stand an die Wand gelehnt da und schaute die schwarzen Fenster an, verfolgte die grünlich aufglimmende Farbe der Fensterstöcke. Das Schwarz hinter dem Glas reichte tief in die Zimmerfluchten, der Wind heulte um das Haus und das Geheul breitete sich aus, drängte gegen mein Trommelfell, und wenn es den Druck aushält, würde nichts weiter geschehen. Dann fiel der Blick auf das mächtige Tor. Die Klingelleiste. Die Schlitze der hölzernen, schweren Haustür, eingeschnitten in den linken Flügel des meterhohen Leibs, die aufleuchteten, als das Ganglicht anging.
Ein schrilles Heulen löste mich von der Hausmauer, ein Peitschenhieb schnalzte, ein Quietschen ging durch die Luft. Die Tür öffnete sich und ein Mädchen mit flachsblonden Haaren entschlüpfte dem Spalt. Ich schluckte und tat beschäftigt, als suchte ich etwas in meiner Tasche. Vielleicht den Schlüssel? Ich tat so, als wäre ich hier zu Hause. Das Mädchen nahm keine Notiz von mir – oder war das nur eine Phrase, um mich zu beruhigen? Ich sah dem Mädchen nach, das zum Zeichen seiner Unbekümmertheit den Rucksack lässig über die Schulter schwang. Sie war vielleicht vierzehn. Ihr Gang, die leichtfüßige Berührung des Bodens, als tupfte eine Katze mit ihren Pfoten über das Pflaster, hätte Maries Gangart sein können. Vielleicht war dieses Mädchen Maries Tochter, schoss es mir durch den Kopf. Dann wäre ich nicht nur Tante, sondern hätte zugleich eine weitere Aufgabe, nämlich mich auch von ihr fernzuhalten. Das Verlangen, in das Haus einzudringen, Marie aufzusuchen und sie nur für eine Sekunde zu sehen, flammte in mir auf und verbrannte die jahrelange Abstinenz, die Mühe, die es gekostet hatte, mich zu distanzieren.
Ich lechzte nach einem freundlich grüßenden Blick, vielleicht auch des Mädchens, aber anstatt es zu verfolgen,
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