Schwesternkuss - Roman
Heiligenbildchen und Gemälde von der Heiligen Dreifaltigkeit plus diverse Palmwedel schlugen in der Küche einen leicht italienischen Ton an, den Mary niemals missen wollte.
Es duftete nach frischem Basilikum und gebratenen Frikadellen, Tony Bennett sang im Radio, doch niemand hörte ihm zu. Alle redeten wild durcheinander. Marys Vater, Mariano ›Matty‹ DiNunzio, dem die Batterien für sein Hörgerät ausgegangen waren, führte mit ihrem Freund Anthony ein äußerst lautes Gespräch über das örtliche Baseballteam. Ihre Mutter Vita stand in ihrer Blümchenschürze am Herd. Während sie in einem eingebeulten Topf blubbernde Bratensoße umrührte, unterhielt sie sich, wild mit ihrer freien linken Hand gestikulierend, mit Marys bester Freundin, Judy Carrier. Judy war schon lange zum Ehrenmitglied der DiNunzios aufgestiegen, trotz ihrer blonden Haare, blauen Augen und ihrer Stupsnase. Mary hatte dafür eine plausible Erklärung: Sie war die Einzige, die dank ihrer Größe Sachen vom obersten Regal herunterholen konnte.
Plötzlich drehten sich alle um. Auf der Treppe waren Schritte zu hören. »Ma, ist das Fiorella, die Wahrsagerin?«, fragte Mary mit angespannter Ungeduld.
» Basta !« Mas braune Augen zuckten hinter den dicken Brillengläsern kurz böse auf. »Darüber macht man keine Scherze. Donna Fiorella besitzt große Kräfte. Sie ist die mächtigste strega in den Abruzzen.«
»Aber nicht mächtiger als du, Ma.« Mary mochte es nicht, wenn ihre Mutter ihr Licht unter den Scheffel stellte.
» Si, si . Doch, doch. Ihr Mann hatte Krebs. Aber Donna Fiorella zauberte, und der Krebs war wie weggeblasen.«
»Aber er ist doch gestorben?«
» Si . Ein Laster hat ihn überfahren.«
» VITA, ICH HABE HUNGER !«, schrie ihr Vater. Zur Feier des Tages trug er sein weißes kurzärmeliges Hemd und seine ausgeleierten dunklen Hosen. »Warum braucht sie so lang?«
»Psst, Matty!«, entgegnete ihm Vita und drohte mit dem Kochlöffel.
»Ich bin noch nie einer Wahrsagerin begegnet«, flüsterte Judy.
» SIE IST KEINE WAHRSAGERIN «, riefen Mary und ihr Vater im Duett. Aber nur Pas Stimme war zu hören, seinem kaputten Hörgerät sei’s gedankt. Matty hatte sein ganzes Leben als Fliesenleger gearbeitet. Er hielt vieles, worauf seine Frau vertraute, für Aberglaube und Hirngespinste, aber seine Liebe zu ihr ließ ihn es tolerieren. Die beiden hatten sich schon als Kinder gemocht, sie gehörten wie siamesische Zwillinge für alle Zeiten zusammen.
»Ob sie wie ein altes runzliges Hexenweib aussieht?«, fragte Judy. »Mit orthopädischem Schuhwerk an den Füßen?«
»Garantiert.« Mary lächelte. »Schade, dass Bennie nicht hier ist. Ein bisschen Zauberei à la DiNunzio würde ihr bestimmt gefallen. Mit einer kleinen Hexe an meiner Seite könnte ich die Karriereleiter bestimmt schneller hochklettern.«
Judy lachte. »Bestimmt arbeitet Bennie noch. Warum rufen wir sie nicht an? Gegen ein gutes Essen hätte sie bestimmt nichts.«
»Nee, die hat zu viel zu tun. Die arbeitet auch lieber.«
»Maria, pssst!«, zischte ihre Mutter sie an. Ma hatte sich ihre Haare in einem Schönheitssalon um die Ecke frisieren lassen. Man hatte ihr zu einer Art Sturmfrisur geraten, weil so eine kahle Stelle auf ihrem Kopf am besten verdeckt werden konnte. Sie war gerade mit dem Überprüfen dieser Stelle beschäftigt, als Fiorella Bucatina in der Tür erschien.
Ihr Auftauchen ließ alle verstummen.
5
Bennie hatte es aufgegeben, gegen den Deckel der Kiste zu treten. Die Luft war zum Schneiden. Die Kleidung klebte auf ihrer Haut, ihr Herz hämmerte, die Wangen brannten, Arme und Beine schmerzten. Es fehlte nicht viel, um in Panik zu geraten. Warum hatte Alice ihr das angetan?
Bennie zerbrach sich darüber den Kopf. Sie hatte geglaubt, ein Einzelkind zu sein, bis Alice sie vor ein paar Jahren vom Gefängnis aus anrief. Sie stand unter Mordverdacht und brauchte einen Anwalt. Ihre erste Begegnung in einem schmuddeligen Verhörzimmer würde sie nie vergessen. Alice trug einen orangefarbenen Overall, ihr Haar war kurzgeschnitten und rot gefärbt. Ein Blick genügte, und Bennie wusste, dass sie in ihr Spiegelbild sah. Sie brachte kein Wort heraus, aber Alice fand die richtigen Worte; Worte, die Bennies Leben verändern sollten.
Schön, dich kennenzulernen. Ich bin deine Zwillingsschwester.
Zu beweisen, dass Alice unschuldig war, war nicht schwierig gewesen. Viel schwieriger war der Beweis, dass sie tatsächlich Bennies Zwillingsschwester war.
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