Schwimmen in der Nacht
unbeantwortete Frage waberte wie unsichtbarer Rauch um den Kronleuchter und verflüchtigte sich, als ob ihn niemand gehört hätte. Vater schob sich eine Gabel Reis in den Mund und unterdrückte die Frage seines Sohns, seine reinen, ungefilterten Versuche, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Sherry tat sich höflich ebenfalls eine Kelle Reis auf den Teller. Ich verstand sie nicht. Sie war bodenständig und abgedreht, einsichtig und übergriffig.
«Ich verstehe einfach nicht, warum wir umziehen müssen», sagte Robert.
Vater erwachte aus seiner Abwesenheit und sah uns mit finsteren Augen an.
«Wenn du älter bist, erkläre ich es dir noch mal. Ich erwarte nicht, dass du es verstehst. Das gilt für euch alle.»
Zwei Tage später rief ich vom Münztelefon in der Drogerie aus in der Klinik an und hörte das befürchtete Wort: positiv. Ich war schwanger. Ich konnte nicht denken, wusste aber, dass ich eine Entscheidung treffen musste. Der Hausverkauf drohte. Meine Brüste waren empfindlich geworden. Ich wollte jemanden in den Arm nehmen. Ich lehnte mich ans Telefon und rief meinen Bruder an. Ich brauchte ein Gegenüber.
Peter nahm ab, und ich brach in Tränen aus.
«Sarah. Pass auf. Das ist zu schaffen. Das ist natürlich beschissen, aber es ist zu schaffen. Ruf Sophie an. Sie ist eine gute Freundin.»
Er redete weiter, argumentierte, während ich weinte, schluchzte, mich nicht beruhigen konnte. Ich warf weitere Münzen in den Schlitz, bestimmt einen Dollar. Drogeriekunden gingen vor der Glaskabine hin und her, aber niemand beachtete mich. Kinder und langhaarige Trolle kamen rein und wollten Kaugummi kaufen. Hausfrauen suchten Kosmetikartikel, Nagellack und Lippenstift. Eine ältere Dame ging mit einer weiÃen Medikamententüte aus Papier hinaus, genau wie Mutters Papiertüten. Diese Pillen. Warum war das nötig gewesen? Was war schiefgelaufen?
«Alles wird gut», versicherte Peter mir wieder. «Versprochen.»
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Sophie übernahm auf eine Weise die Regie, die mich total überraschte, und beharrte darauf, ich solle mich nach vorn setzen, als Benny uns zum Flughafen fuhr. Unseren Familien sagten wir, wir würden aufs Land fahren und durch die Herbstwälder streifen. Alle machten das.
Ich war Benny so dankbar, dass er mir keine Vorwürfe machte, als ich mich in seinen Datsun setzte. Er sah freundlich und geduldig aus. Ich stieg ein und hatte meine Handtasche mit dem Geburtstagsgeld in der Hand, das ich im Lauf der Jahre gespart hatte. Die Sonne schien an einem von wenigen Wolken getüpfelten blauen Himmel. Die Luft war kalt und klar. Nach diesem Tag würde ich von vorn anfangen, schwor ich mir. Ich würde einen Freund haben, wie Sophie. Ich würde lernen, glücklich zu sein.
Das Flugzeug war voller gutgekleideter Frauen in Wollkostümen mit Hahnentrittmuster, die Ausflüge nach New York machten, um sich einen Tag lang die neue Herbstmode anzuschauen. Lord & Taylor, Bonwit Tellerâs, Saks. Mutter hatte das auch gemacht. Morgens hin, nachts zurück.
Am Flughafen LaGuardia fasste Sophie mich am Ellenbogen und entdeckte den Mann in einer dünnen braunen Hose und Lederjacke, der ein Pappschild mit der Aufschrift Ranch River Estates hochhielt. Das war das verabredete Codewort. Sophie gab ihm die Hand. Wir kommen aus Beacon Hill, sagte sie. Die Klinik hatte uns aufgetragen, ihm das zu sagen. Die Verbindung steht, sagte er. Ich schwieg. Sophie übernahm das Reden. Sie redete über alles Mögliche. Den Flug. Das Wetter. Den Flughafen. Er nickte und brachte uns zum Wagen vor dem Terminal.
Sophie setzte sich zu mir nach hinten. Der Mann lieà eine Radio-Talkshow laufen, eine Sportsendung, deren Sprecher sachkundig von den New York Giants, dem Quarterback und dem Wide Receiver, dem Fänger, sprach. Die Worte dröhnten mir in den Ohren. Ich sah aus dem Fenster und folgte mit den Augen den vorbeiziehenden weiÃen Linien auf dem Highway. Ich lehnte mich zurück. Ich mahnte mich zur Ruhe. Ich hatte es fast geschafft. Bald war es vorbei. Vorbei.
Der Wagen scherte zur Seite aus, verlangsamte und hielt dann auf dem Randstreifen.
«Verdammt!», sagte der Mann. «Verflucht noch mal. So eine ScheiÃe.»
«Was ist denn los?» fragte Sophie mit ihrer Flötenstimme. Sie beugte sich über die Lehne vom Fahrersitz.
«Reifenpanne. Wir haben eine Reifenpanne. Keine Angst. Damit kenn ich
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