Schwimmen in der Nacht
meinen Mut zusammen. Die grauenhafte Vorstellung, dass ich ein Kind loswerden musste, den Keim von jemandes Zukunft, den Gregorys stürmische Explosion salziger Flüssigkeit mir eines nachts in einem nebelverhangenen Wald eingepflanzt hatte â oder war es Anthonys? Leichtfertiges Abspritzen, während meine Lippen seine küssten,als würde uns dieses Säftevermischen, dieser Zeugungsakt verwandeln. Nur eine Nacht. Ein Tag. Zwei idiotische Augenblicke hatten alles verändert. Wo war ich in ihnen zu finden? Meine Mutter fehlte mir. Mom. Mommy.
An der Schwelle vor der saphirblauen Tür zögerte ich.
Auch mir selbst gegenüber brachte ich diese Worte kaum über die Lippen. Mutter, sagte ich langsam. Ich hatte eine Mutter, eine verschwindende Mutter, eine Mutter, die nicht hier war. Das sagte ich mir immer wieder. Nicht hier. Irgendwo. Da drauÃen. Als ob man in einem Ozean schwimmen würde. Wo die Strömungen einen davontragen, ohne dass man es merkt. Erst wenn man zum Ufer zurückblickt, begreift man, dass man stromabwärts getrieben worden ist, Hunderte von Metern weit weg. Vielleicht Tausende.
Ich erinnerte mich daran, dass ich einst diesen Trost gehabt hatte, eine Mutter zu haben, sie zu besitzen. Sie war zu Hause gewesen, oben in ihrem Schlafzimmer, hatte Zeitschriften gelesen und an einem Drink genippt. Sie war da gewesen, ob ich sie da haben wollte oder nicht. Das Bild, wie sie in ihrem Zimmer auf dem Zweiersofa mit dem plissierten Lampenschirm daneben gesessen hatte, blendete mich einen Augenblick. Mir wurde schwindelig. Ich wollte, dass sie mich sah. Bleib bei mir, Mutter, bitte. Es war wichtig. Wer war es, Gregory oder Anthony? Ich wollte, dass es vorbei war. Von vorn anfangen. Neu anfangen.
Im Empfangsbereich der Klinik ging ich über schwarze und weiÃe Marmorplatten. Ich hängte meinenMantel an einen Kleiderständer und folgte einem Schild nach rechts eine kleine Treppe hoch. Oben angekommen, nannte ich einer Frau mit kurzen roten Haaren meinen Namen. Sie trug einen schwarzen Pullover. Am Daumen hatte sie Tintenflecke.
«Das hier müssen Sie durchlesen.» Sie schob mir einige Papiere über den Tisch und warf mir einen strengen, aber mitfühlenden Blick zu. Ich war einem privaten Club beigetreten, dem niemand angehören wollte. Sie zeigte auf ein Zimmer am Ende des Korridors. Ich kam an einem alten Serviertisch vorbei. Ob sein ursprünglicher Besitzer wohl je gedacht hätte, dass darauf einmal Blutampullen statt Teetassen stehen würden?
Eine andere Frau im weiÃen Kittel legte mir in dem Zimmer eine Druckmanschette um den Arm und nahm mir Blut ab. Dabei sah sie mich nicht an. Sie löste die Manschette und beschriftete die Ampulle. Sie fragte mich nach meinem Nachnamen und teilte mir eine Nummer zu. 302. Aus Datenschutzgründen.
302. Und wenn ich die vergaÃ?
Sie sagte, meine Telefonnummer würde ausreichen.
Als ich zurück zum Bahnhof lief, war es bereits dunkel geworden, es war eine kalte und braune Dunkelheit, wie ein leeres Ãlfass. Auf der StraÃe hupten Autos. Der Berufsverkehr mit seiner nervösen Hektik hatte begonnen. Ich zündete mir eine Zigarette an und verbarg sie in der hohlen Hand, inzwischen war ich eine Rauchexpertin. Ich stieà den Rauch aus, holte tief Luft, stieà weiÃen Kondensatem aus, schnippte den Stummel auf den Gehweg und zertrat ihn.
Im Zug übte ich die Ausrede ein, warum ich zu spät nach Hause kam. Ich würde behaupten, ich wäre länger beim Chor geblieben. Da würde nicht mal Dora nachfragen.
Der Zug füllte sich mit Männern in Mänteln und schweren Regenjacken, Männern mit Aktentaschen aus Leder und säuberlich gefalteten Zeitungen. Männern in Budapestern, Anzughosen mit Aufschlägen und blau und rot getüpfelten Krawatten. Sie hatten kurze Haare mit kastenartigen, geometrischen Scheiteln.
Mein Nachbar entschuldigte sich, als seine prallvolle Aktentasche gegen meine Schuhe stieÃ.
«Meine Frau meint schon lange, ich soll mir eine neue kaufen», sagte er gutmütig. «Auf dem Nachhauseweg von der Schule?»
«Zahnarzttermin», sagte ich.
Ich rollte die Broschüre ein. Da standen lauter Fragen drin.
Bist du wirklich bereit für Sex? Was bedeutet dir Sex? Unterscheidet sich deine Einstellung von der deiner Eltern? Welche Verhütung ist für dich die beste? Kennst du die
möglichen
Nebenwirkungen der Pille?
In einer anderen
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