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Schwimmen in der Nacht

Schwimmen in der Nacht

Titel: Schwimmen in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Keener
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unserem Mutter-Tochter-Gespräch über Sex gesagt. Da war ich elf gewesen.
Wir saßen in ihrem Zimmer auf dem Sofa, den Nähkasten zu ihren Füßen. Die frühe Nachmittagssonne schien uns auf die Knie.
    Â«Das weiß ich.»
    Â«Hast du irgendwelche Fragen?»
    Â«Nein.»
    Sie schlug die Informationsbroschüre auf und blätterte zaghaft darin. Auf meiner Seite zeigte sie mir eine nackte Frau, auf ihrer Seite einen nackten Mann. Die Vagina der Frau war ein gleichschenkliges Dreieck; der Penis des Manns erinnerte an eine Essiggurke. Der Mann und die Frau sahen aus, als würden sie beim Arzt auf eine Untersuchung warten.
    Am wichtigsten ist es, immer daran zu denken, dass der Geschlechtsverkehr ein Ausdruck der Liebe zwischen Mann und Frau ist.
    Ich nickte.
    Hier,
sagte sie und gab mir die Broschüre.
Du kannst sie behalten.
Ich versteckte die Broschüre unter dem Läufer in meinem Zimmer.
Ein Ausdruck der Liebe.
Ein Ausdruck der Liebe. Was sollte das heißen?
    Ich öffnete mein Biologiebuch und las das Kapitel über Hormone. Mir gefiel die Vorstellung, dass verschiedene Organe in unserem Körper wirkmächtige Flüssigkeiten absonderten, als bestünden wir aus vielen ineinander mündenden Strömen, aus einem Gebilde von Kanälen, die strudeln, sich leeren und wieder füllen. Vielleicht hatte Mr Bingham recht. Alles war miteinander verbunden. Ich dachte daran, wie das Singen alle losen Enden verknüpfte. Wenn ich sang, kam mein Inneres inEinklang, widerstreitende Gefühle vereinigten sich zu einem Strom, der Berge bezwang, sich mit Flüssen vermischte und ins Meer mündete. Dann ließ sich der höchste Berggipfel bezwingen.
    Der Zug raste an vielen kleinen Städten vorbei und linderte meinen Kummer. Ich schöpfte wieder Hoffnung. Ich hoffte, die Dunkelheit, die ich seit Mutters Tod wie ein Schwamm in mich aufgesogen hatte, würde sich lichten. Wenn ich Glück hatte – und zum ersten Mal seit Mutters Tod dachte ich an Gott –, würden mir diese Übelkeit und die Angst deswegen eine Lehre sein. Lieber Gott. Bitte hilf mir, nicht so schamlos zu sein.
    Ich war ein kluger Kopf. Mädchen mit guten Noten wurden nicht schwanger. Ich würde die Pille nehmen. Bald hätte ich alles hinter mir. Aber wenn ich schwanger war, musste ich nach New York fahren. In Massachusetts war Abtreibung verboten.
    Margaret kannte da so eine Klinik in Boston. Im Vorjahr war sie selbst dort gewesen. Seit der Fehlgeburt auf der Schultoilette nahm sie die Pille. Für sie war das die beste Erfindung des Jahrhunderts. Sogar besser als das Frauenwahlrecht. Und wenn ich nun schwanger war?
    Nachdem ich an der South Station aus dem Zug gestiegen war, ging ich durch die Einkaufszone in der City, über die Kreuzung, die von Filialen von Filene’s und Jordan Marsh beherrscht wurde, an Juwelierläden – von denen gab es viele – und am Antiquariat vorbei. Die Gehwege wellten sich unter den immer neuen Asphaltschichten, angehoben von Kälte, Nässe und Eis.
    Ich knöpfte den Mantel zu und zog den Kragen amHals zusammen. Die Sonne sah aus wie ein Fötus, ein Klümpchen, das sich kaum an eines der Dächer klammern konnte, als hätte die Erde sie abgetrieben, und als würden jetzt die Lichtspuren am Himmel ineinander verlaufen, Überbleibsel einer uneingelösten Zukunft. Ich lief durch Scharen schwarzer Jugendlicher, die sich vor einem Plattenladen drängten. Musik plärrte auf die Straße hinaus. Der Wind pfiff. Trockene Blätter flogen mir um die Füße und ins Gesicht.
    Die Frau, die in der Klinik ans Telefon ging, erklärte mir, ich solle die Tremont Street überqueren und Richtung State House gehen, auf dessen goldene Kuppel fahl die späte Nachmittagssonne schien. Ich fühlte mich schrecklich allein. Sie sagte: «Biegen Sie nach rechts in die Joy Street ein.»
    Die Joy Street – welche Ironie – lag nördlich der Commons, an der Ecke von Beacon Hill. In dem geschichtsträchtigen Viertel fanden sich Gehwege mit Kopfsteinpflaster, Gaslaternen und elegante dreistöckige Stadthäuser. «Die saphirblaue Tür können Sie nicht übersehen», sagte sie. Und da war sie auch schon, ganz wie sie sie mir beschrieben hatte. Diese Tür, ohne Schild, einfach nur blau, öffnete sich für junge Frauen, die zu jung waren, um Kinder zu bekommen.
    Vor der Tür blieb ich stehen und nahm all

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