Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
einer kleinen, halboffenen Kutsche, dem einzigen Gefährt, das Bruder Marcus so kurzfristig hatte auftreiben können. Er kutschierte. Die höhergestellten Brüder befanden sich in der Kutsche, eingewickelt in Decken mit aufgewärmten Steinen an den Füßen und mit Schirmen, die sie über ihre Knie hielten, um auch jene Teile ihres Körpers trocken zu halten, die nicht vom Verdeck geschützt wurden.
Norden. Das hatte Bruder Anselm gesagt. Er hatte auch gesagt, dass es nicht einfach werden würde. Wo sollte man dann suchen?
Gott würde sie leiten. Marcus bezweifelte das nicht. Sie taten Gottes Werk, und Er würde sie nicht ohne Aussicht auf Erfolg weitermachen lassen. Schließlich waren die drei Brüder das Werkzeug Seines göttlichen Willens. Judica me, Deus, et discerne causam meam de gente non sancta – Lass Gerechtigkeit widerfahren, oh Herr, und kämpfe meinen Kampf gegen die Unheiligen.
Marcus war kalt. Geschlafen hatte er auch nicht. Zwischen den Strapazen der letzten Nacht, der Frustration darüber, einen Misserfolg berichten zu müssen, den Gebeten um Vergebung und der Reiseorganisation in die Wildnis hatte er nicht einen einzigen Augenblick gehabt, an dem er hätte kurz ruhen können. Es war ihm gelungen, alles zu organisieren, bevor es zur Frühmesse ging, und das war gut so, denn andernfalls hätte es nur noch mehr Ärger gegeben. Und mehr Schuld, die er auf sich lud.
Manchmal, nur manchmal glaubte er, dass sein Beitrag zur heiligen Aufgabe vielleicht auch ein wenig Anerkennung verdient hätte. Doch dann wusste er, dass Anerkennung durch seine Mitmenschen eitel und leer war. Er tat dies für den Allmächtigen.
So nahm er denn das Fehlen allzu harscher Kritik als Belobigung an. Seine Brüder steckten warm in ihren Decken und konnten ihren zweifelsohne überlegenen Geist ablenkungsfrei den Problemen zuwenden, die Marcus selbst nicht lösen könnte.
Vielleicht würde er mit mehr Erfahrung auch mehr Einsicht gewinnen.
„Man hat in diesem Land schon lange keine Hexe mehr verbrannt“, sagte Bruder Anselm. Er sprach eher leise und sah offensichtlich keinen Grund, warum Marcus sich an der Unterhaltung beteiligen sollte. Das hätte er ohnehin nicht getan. Doch er lauschte gebannt und war nun fast ein wenig dankbar, dass er nur dieses offene Gefährt hatte ergattern können. Auf dem Kutschbock wäre Bruder Marcus so und so nass geworden. Jetzt konnte er immerhin hören, was gesprochen wurde. Vielleicht hatte die göttliche Vorsehung das ja genauso gewollt.
„Die letzte brannte in einem Dorf namens Ringelai. 1703!“, antwortete Pater Bonifatius. „Das ist bis heute ein langer Zeitraum. ‚Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen. ‘ Maleficos non patieris vivere.“
„Vielleicht gab es ja inzwischen keine?“, schlug Bruder Anselm etwas zu leichtfertig vor.
„Das Böse fährt nicht in die Sommerfrische, mein lieber Bruder. Und hundertvierundsechsig Jahre wären eine allzu lange Zeit dafür. Nein. Das sogenannte Zeitalter der Vernunft hat den Menschen den Blick für die Wahrheit verbaut. Sollten wir diese Gegend genauer nach Spuren von Hexerei absuchen, so würden wir wohl mehr finden als nur Relikte aus längst vergangener Zeit. Eine Giftmischerin und ein Kräuterweib hier, ein ketzerischer Gottesleugner dort. Und an Walpurgis tanzen sie gewiss auf dem Großen Arber. Doch wir suchen nach unserer sehr speziellen, eigenen Hexe.“
Die Stille nach diesem Kommentar zog sich, und Bruder Marcus konnte beinahe hören, wie Bruder Anselm die Worte herunterschluckte, die zu sagen ihm nicht gestattet waren.
„Sie mag vielleicht nur eine irregeleitete Frau sein“, sagte Anselm schließlich doch und klang eher nachdenklich als rebellisch.
„Unwahrscheinlich. Sie konnte nicht ertrinken. Sie hat Raben zu sich gerufen, um das Mädchen zu verstecken. Und sie ist mit dem Mädchen unterwegs, von dem Sie gesagt haben, dass es eine von anderen Menschen abweichende Aura hat. Dämonenkind und Hexe. Sie stecken unter einer Decke mit Logenzauberern und Raubtieren, die sich als Menschen ausgeben. Wie können Sie da noch an der Anwesenheit des Bösen zweifeln? Das ist kein Zufall mehr! Sie sind Meister des Arkanen – ich dachte, sie glaubten nicht an Zufälle!“
„Der Herr lenkt uns auf allen Wegen.“
Das zumindest war eine vorsichtige Antwort und eine, der man nichts entgegensetzen konnte.
„Und der Zufall“, tönte die hohe Stimme des Priesters weiter, „ist nichts als die Planung des Teufels. ‚Reiner
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