Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Schwingen aus Stein: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
Vom Netzwerk:
Hände wie zum Gebet. In dieser Stellung verharrte er eine ganze Weile, unfähig, seine Gedanken über die Grenze zu wuchten, hinter der Worte lagen. Letztere versteckten sich vor ihm.
    So viele Gedanken und Gefühle. Er roch den Regen, Wasser auf Wolle, Herbstwald. Ein Geruch nach Winter und Tod umwehte ihn, nach kleinen Tieren, ihren Spuren, die fast sichtbar waren wie rote Linien, die den Boden überzogen. Die Nacht sang einen Jagdgesang, heulend und unromantisch.
    Er holte tief Luft durch den Mund und schmeckte die Möglichkeiten. Er hörte ein Knurren und brauchte einen Augenblick, um festzustellen, dass es von ihm kam. Er hörte damit auf. Worte. Er brauchte Worte.
    „Lieber Gott! Was immer ich tue, lass mich niemanden umbringen!“
    Seine Aussprache war undeutlich. Er wiederholte den Satz.
    „Lieber Gott! Was immer ich tue, lass mich niemanden umbringen!“
    Dann fügte er hinzu:
    „Nie wieder.“
    Wie er es immer tat, wenn solche Gedanken ihn überkamen, begann er auf Latein zu beten. Ave Maria. Und noch mal. Und wieder. Eine Konzentrationsübung für den Willen.
    Etwas rührte sich neben ihm. Ein dummes Tier. Eine Störung. Fressen.
    Er bewegte sich so schnell, dass er dem Hasen das Genick gebrochen hatte, noch bevor er mit dem Gebet fertig war.
    Er war so hungrig.
    Seine Zähne bohrten sich durch den Pelz, dann hielt er inne. Das war für einen gebildeten Herrn keine Art zu speisen. Ein Feuer sollte er machen, das Tier zubereiten. Doch die Nacht war zu feucht für ein Lagerfeuer, und er hatte ohnehin weder die Muße noch die nötigen Hilfsmittel.
    Hier musste es Ansiedlungen geben. Vielleicht sogar ein Gasthaus. Er war sich sicher, dass er jemanden dazu bewegen könnte, ihm ein Zimmer für die Nacht zu geben. In seinem Gehrock hatte er Geld. Er hatte es mit in das Bordell genommen, falls er das Mädchen hätte freikaufen müssen.
    Er sah es wieder vor seinem geistigen Auge, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er hatte versagt. Es sollte ihn nicht so belasten, doch das tat es. Ein so eigenartiges Kind. Niemand, der ihm nahestand. Und dennoch.
    Langsam stand er auf. Diesmal gelang es ihm, aufrecht zu stehen. Er streckte die Glieder. Er musste die Straße wiederfinden. Er konnte genauso gut am erstbesten Haus klopfen, das er fand. In einer Nacht wie dieser mochten die Menschen barmherzig sein und einen einlassen, wenn er ihnen erzählte, er wäre überfallen worden und man hätte ihm das Pferd gestohlen.
    Einen Fremden würde man vielleicht fortschicken, doch er war eine prominente Persönlichkeit in der Gegend. Selbst Menschen, die ihn nicht persönlich kannten, würden von ihm gehört haben. Von seiner Großzügigkeit und seiner Güte. Er gab jenen Arbeit, die sie brauchten. Er war ehrlich und fleißig.
    Er zahlte für Begräbnisse einsamer alter Mütterchen.
    Er reckte sich, hüpfte auf den Zehen, schlug die Arme um sich. Die Welt war dunkler geworden. Doch was er an Nachtsicht verloren hatte, hatte er an Menschlichkeit gewonnen.
    Langsam begann er zu gehen. Dann wurde er schneller. Die Straße konnte nicht so weit sein? Wenn er erst mal unter Menschen war, war er – nun, sich als sicher zu bezeichnen traf es nicht ganz.
    Er rannte nicht, aber pflügte sich doch mit einiger Geschwindigkeit voran. Er war körperliche Anstrengung gewohnt. Bisweilen stolperte er über eine Wurzel oder einen Stein. Doch zumeist fanden seine Füße den Weg, ohne dass er sich konzentrieren musste. Fräulein Vanholst würde es schwerer haben, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden.
    Zum ersten Mal begriff er ihr Problem vollends. Die Gouvernante liebte das Mädchen weitaus mehr als bezahlte Lehrkräfte das gemeinhin taten. Ein Kind zu lieben und durch eigene Fehlentscheidung zu verlieren, musste unendlich schmerzhaft sein. Ihre Flucht auf seinem Pferd war vermutlich sinnlos, aber irgendwo auch begreiflich. Er fragte sich, wie er wohl ausgesehen haben mochte, als er über die Mauer davongestoben war, von ihr fort, anstatt ihr zu helfen. Würde sie Angst vor ihm haben?
    Wieder gingen seine Gedanken zurück, diesmal noch weiter. Er hatte von Jugend an von seiner Andersartigkeit gewusst. Er hatte sie vorsichtig ausgetestet, ihren Einfluss gefürchtet, doch ihre Talente zu schätzen gewusst. Vollständig verloren hatte er sich nur zweimal, einmal bei der alten Kath, einmal wegen dieser magieverständigen Mönche. Er wünschte, er wüsste, was den Rosberg-Fluch einst ausgelöst hatte. Doch sein Vater war viel zu früh

Weitere Kostenlose Bücher