Schwingen des Vergessens
Schließlich bekam das Mädchen selbst nicht jedes einzelne Detail von den Streits mit Steve mit und Caro redete ungern über ihre eigenen Gedanken und Sorgen. Trotzdem konnte Amelie sich nicht vorstellen, dass so etwas normal war, allerdings blieb die Angst, irgendwo hin zu müssen. Ins Heim oder an einen anderen Ort, denn sie liebte ihre Mutter, auch, wenn es oft nicht sehr gut zwischen den beiden lief. Fragen, wie es bei anderen Jugendlichen wohl war, konnte sie niemanden, schließlich hatte sie keine Freundinnen. Tief im Inneren wusste sie, dass es ganz alleine ihre Schuld war, dass ihr soziales Leben so den Bach hinunter gegangen war, nicht die der Amnesie. Hätte sie nach dem Verlust der 12 Jahre ganz normal weiter gelebt, auch wenn sie nicht wusste, was normal eigentlich war, hätte sie womöglich ihre Freunde behalten. Diese Möglichkeit hatte sie bereits so oft gedanklich durchgerechnet, doch ihr gefiel ihr Leben im Grunde genommen so besser. Zumindest redete sie sich das ein, denn wer wollte schon von sich selbst sagen, dass sein Leben einfach nur der letzte Dreck war? Amelie wollte es nicht.
1.2 ~*~ Seelensplitter
Mit ein paar Strichen beendete sie das Kunstwerk und vermerkte hintendrauf ihren Namen und das Datum. Nachdenklich berührte sie die feinen Wölbungen des Papiers dort, wo die schwarze Farbe etwas zu viel des Guten war und der weiße Stift es noch mehr zerkratzt hatte. Das Bild stammte aus dem Albtraum, den sie heute geträumt hatte. Alle Sekunden des Traumes verpackte Amelie in diesem einen Bild. Manchmal erkannte sie ihren Zeichenstil selbst nicht, doch noch konnte sie es sehr wohl nachvollziehen. Nachdem sie das Blatt auf die Decke geklebt hatte, lehnte sie sich in ihrem Sitzsack zurück und versuchte erneut, das Buch Seelensplitter weiter zu lesen. Seite 112, weiter war sie noch nie gekommen: „Schmerzen, ich fühle die Schmerzen meist erst nach dem Gefühl der Freiheit, dem Gefühl, dass es tut gut. Wenn ich mich aber dann darauf besinne, dass es mir nicht weiter helfen wird, ist es meist schon zu spät dafür. Auch wenn ich dann will, dass ich es doch nicht getan habe, ich kann meine Taten nicht mehr rückgängig machen und will es tief im Inneren auch nicht.“
„Wahre Worte“, flüsterte das Mädchen leise und überflog es nochmal. Trotzdem machte dieser Absatz sie nicht traurig, im Gegenteil, es stärkte sie etwas. Die Tatsache, dass es anderen Mädchen wohl auch so schlecht ging, wie ihr den ganzen Tag, fiel ihr auch erst jetzt auf. Heute würde sie es schaffen, heute war endlich der Tag gekommen.
Nach drei oder vier Stunden legte sie das Buch endlich zur Seite. Seite 255, manche hatte sie doppelt gelesen, doch irgendwie hatte sie es sich anders vorgestellt. Sie hatte gedacht, es würde sich etwas Schweres von ihr lösen, aber das Gegenteil war der Fall. Das Gefühl, was sie alles getan hatte, drückte sie nur noch tiefer auf den Boden. Am Ende des Buches hatte die Hauptperson ihren Neuanfang beschrieben, wie es war, einfach alles zu vergessen und das Gefühl, wenn man endlich wieder wahrgenommen wurde. Doch Amelie wollte nicht alles erneut vergessen, sie hatte schon einen Neuanfang bekommen, den sie so sehr verhasste. Fünf Minuten saß sie noch in dem violetten Sitzsack und lauschte den kleinen Körnchen, welche bei jeder Bewegung ein leises Geräusch von sich gaben. Den Schlusssatz des Buches hatte sie noch sehr gut im Gedächtnis: „Es ist nicht möglich, vor etwas davonzulaufen, das tief in einem selbst steckt.“ Leider wusste Amelie so gut wie gar nicht, was noch Erfreuliches in ihr selbst steckte. Oder ob sich überhaupt noch irgendetwas in ihr drinnen befand. Schlechte Sachen fielen ihr viele ein, allerdings konnte man die nicht wirklich dazu zählen. Kurz kniff sie die Augen zusammen und verdrängte die Gedanken in die hinterste Ecke ihres Gehirns. Besser, sie würde sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, da Amelie sich ohnehin ganz sicher war, dass es nichts bringen würde…
Ruhig schlenderte sie quer durch ihr Zimmer zum Schreibtisch, wo ihr kleiner Laptop stand, der rund um die Uhr eingeschaltet war. Ohne jeglichen Stress, diesen hatte sie ohnehin schon seit genau 4 Jahren nicht mehr, ließ sie sich auf dem gemütlichen Sessel nieder. Nachdem sie gelangweilt ein paar Internetseiten geöffnet hatte, loggte Amelie sich bei ihrem Mailaccount ein und überflog die Fülle von Werbungen, die sie früher abonniert hatte, als sie das Gefühl brauchte, doch noch
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