Schwingen des Vergessens
dem lauten Krachen. Ein einziges Mal hatte sie noch ein Brummen gehört, wie bei einem Automotor, der aufheult. Am wichtigsten, aber vor allem am Komischsten, war die Tatsache, dass Amelie die Schmerzen spürte, was sonst bei keinem ihrer Träume war. Normalerweise wachte sie bei diesen Momenten schweißgebadet auf oder meist schon davor. Als sie fertig war, sagte die Wahrsagerin noch nichts, sie dachte sichtlich angestrengt nach. Ihre Augen waren zusammen gekniffen und auf ihrer Stirn hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Zwischen ihren Augenbrauen verlief ebenfalls ein senkrechter Strich nach unten.
„Ja… Das ist schwer, aber ich habe schon eine Vorstellung. Ob der Traum dann wirklich eine Bedeutung hat, ist eine andere Frage. Hattest du in letzter Zeit einen schlimmen Unfall oder etwas dergleichen?“ Amelie schüttelte den Kopf, ob es ein Unfall war, der ihr ganzes Gedächtnis gelöscht hatte, wusste sie nicht, doch dann hätte ihr die Polizei oder gar die Rettungssanitäter weiterhelfen können.
„Ich meine, es könnte schon sein. Ehrlich gesagt…“, begann sie, überlegte es sich allerdings anders. Die Wahrsagerin musste nichts von ihrer Amnesie wissen.
„Was? Wenn du mir etwas verschweigst, ist es mir unmöglich, richtig zu deuten.“ Mit einem Seufzer erzählte sie alles von ihrer Amnesie und von der Angst, dass etwas Schlimmes davor geschehen ist.
„Ich verstehe, jetzt wird mir einiges klar. Ich denke, du hattest einen Unfall mit dem Auto. Du sagtest, der Schrei stammt nicht von dir, das heißt, er muss von jemandem sein, der dir sehr ähnlich ist, also auch von der Stimme her. Ich tippe da einfach mal auf deine Mutter. Sagen wir mal, das Auto ist von der Straße abgekommen, deine Mutter hat geschrien, du warst 12 und bist bei dem Aufprall am Kopf verletzt worden. Dadurch hast du dein Gedächtnis verloren. Und fertig! Aber das erklärt immer noch nicht, warum dann keine einzige Person weiß, warum du alles verloren hast. Wenn deine Eltern überlebt haben, müssen sie dir ja sagen können, warum du Amnesie hast. Bist du dir ganz sicher, dass deine jetzigen Eltern deine echten sind?“, beendete Esmeralda ihre Worte und blickte Amelie auffordernd an. Was sie damit in ihr drin auslöste, konnte sie nicht erahnen, aber es war viel. Wie eine Welle stürzten tausende Erinnerungen auf das Mädchen herein, doch jetzt wollte sie noch lange nicht an der Frau zweifeln, die sie 16 Jahre schon großzog.
„Natürlich bin ich mir sicher, Caro ist meine Mutter, ganz sicher“, stotterte das Mädchen, warf einen Zehneuroschein auf den Tisch, und rannte hinaus. Weg von hier! In Windeseile sprang sie zurück auf ihr Motorrad und brauste davon. Was redete diese Wahrsagerin da überhaupt? Natürlich war Karoline Amelies echte Mutter, anders konnte es schließlich gar nicht sein. Verwirrter denn je, bog sie nicht auf die Hauptstraße ab, sondern entschied sich für den längeren, holprigeren Waldweg, der quer durch ein riesiges Waldstück führte, das neben der Hauptstraße wuchs. Das Mädchen brauchte nichts mehr als Ruhe. Obwohl die Worte von Esmeralda mehr als nur zweifelhaft waren, weckten sie Gedanken in Amelie, die sie bis jetzt zurück gehalten hatte. Zum Beispiel die Tatsache, dass ihre Mutter nicht wusste, welche Noten sie in der Volksschule hatte, geschweige denn, ob sie gut oder schlecht war, und was für Freundinnen sie hatte. Vor dem Besuch im Zelt hatte sie diese Dinge auf die Tatsache geschoben, dass Karoline sich schlicht und einfach nicht für sie interessierte, aber nun erschien das alles in einem ganz anderen Licht. Was war, wenn ihre Mutter gar nicht wissen konnte, was in ihrem Leben vor der Amnesie geschehen war, wenn sie damals noch gar nicht ihre Mutter war? Noch mehr Fragen schwirrten in ihrem Kopf umher, eine schwerer zu beantworten als die andere. Aber am Ende blieb die Frage, ob diese Frau einfach nur etwas daher geredet hatte, was nichts bedeutete, oder ob der seltsame Traum überhaupt irgendeinen Sinn hatte. Für ihr Geld könnte sie schließlich jedem daher gelaufenen Idioten irgendeinen Quatsch erzählen. Natürlich wäre Amelie genau zu demselben Schluss gekommen, auch ohne die Wahrsagerin, aber zuvor hatte sie auch nie daran gedacht.
Als der holprige Weg auf eine Lichtung und dann wieder zurück in den Wald führte, blieb sie stehen und setzte sich an einen winzigen Teich, die Sonne glitzerte in dem klaren Wasser, man konnte bis ganz hinunter sehen. Sehr verschmutzt war der Teich
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