Schwingen des Vergessens
Kurz öffnete sie die Augen und blickte die schwarzen Striche an. In den Augen aller anderen Menschen ergaben sie keinen Sinn, geschweige denn ein schönes Bild. Doch es sollte nicht schön sein, die Zeichnungen konnten sowieso nur die Menschen verstehen, die das gleiche Schicksal erlitten hatten wie Amelie selbst. Allerdings kannte sie niemanden, dem dasselbe Schicksal wie ihr widerfahren war. Außer den psychisch Gestörten, die mit ihr in die Therapie gegangen waren, bis sie den Besuch verweigert hatte. Es tat ihr einfach nicht gut, mit einem hochintelligenten Professor darüber zu reden, an was sie sich alles nicht mehr erinnerte. An all die Schulausflüge und an den ganzen Spaß. Nicht einmal ihre Mutter wusste noch, welche Noten sie in der 3. Klasse Volksschule gehabt hatte. Wöchentlich zwei Stunden hatte die Gruppe im Sitzkreis am Boden gesessen und darüber geredet, wie alle anderen mit dem Verlust der Erinnerungen klar kamen. Doch Amelie war die einzige gewesen, die sich an 12 Jahre ihres Lebens nicht mehr erinnern konnte. Sie selbst wusste nicht einmal, warum sie alles verloren hatte, was ihr wichtig war. Erneut versuchte sie, die Gedanken zu vertreiben, doch schon wieder blieb etwas zurück, das sie wie immer davon abhielt, zumindest ein paar Minuten normal zu leben.
Blinzelnd starrte sie auf die Uhr, konnte jedoch nicht entziffern, wie spät es war, da ihre Augen brannten. So ungewöhnlich war es für Amelie schon längst nicht mehr, ihr Zimmer besaß schließlich keine Fenster, weshalb sie den ganzen Tag nur das grelle Licht der Deckenlampe in den Augen spürte. Gähnend sprang sie auf den weichen, violetten Teppich und stolperte leicht verwirrt in ihr Bett zurück, wo sie sich schon wieder hinlegte. Das Licht des Aquariums beleuchtete das gesamte Zimmer, als sie das eigentliche Licht eilig ausknipste. Amelie war es gewohnt, das Blubbern des Wassers während des Einschlafens zu spüren und das düstere Licht der Lampe, das beinahe grünlich aussah. Mit offenen Augen lag sie auf der weichen Matratze und starrte die Decke an. Alles schien ihr so fern, vor allem ihr Leben, aber das war schon immer so. Es kam dem Mädchen so vor, als würde sie alles verlieren und das nicht nur wegen der Amnesie, wie die Ärzte ihre Krankheit nannten. Das Gefühl, dass alle ihr aus dem Weg gingen und sie schon beinahe für „verrückt“ hielten, es war unerträglich. Nachdenklich schluckte sie und blickte auf ihren Arm. Lange Kratzer zogen sich von ihrem Handgelenk bis zu der Armbeuge. Es sah in ihren Augen beinahe aus wie ein Kunstwerk. Die roten Linien, manche, wo schon Schorf drüber war, waren dunkler, andere, die frischen, waren heller. Seit Amelie 12 Jahre alt war, ritzte sie sich, es tat ihr gut, denn nur so konnte sie dem Alltag entfliehen. Ihre Mutter hatte nichts mitbekommen, wie denn auch? Die einzige Person, der sie alles anvertraute, war ihr Tagebuch. Das schwarze Büchlein hütete sie wie ihren Augapfel, denn nur dort standen die Worte, die sie zu niemandem sonst sagen würde und die so gut wie jeden einzelnen Gedanken von ihr preisgaben. Seufzend klappte sie das Tagebuch auf und durchblätterte die ersten Seiten. Eine Zeit lang hatte sie neben den Text, den sie in die Mitte schrieb, wilde Bilder gezeichnet. Bilder von Mord, Angst und Tod, meist allerdings nur Verzierungen ihrer Albträume. Das Mädchen wusste nicht, ob sie, bevor sie ihr Gedächtnis verloren hatte, auch schon Tagebuch geschrieben hatte, sie war sich nur sicher, dass sie angefangen hatte, um bei einem weiteren Gedächtnisverlust nicht erneut alles zu verlieren. Ihr Therapeut legte ihr zwar immer ans Herz, sie solle alles hinter sich lassen, doch er war schließlich nicht in ihrer Situation und kannte sich deshalb nicht aus. Es war nämlich was ganz anderes, ein Buch darüber zu lesen oder es selbst zu erleben. Anscheinend verstanden das nur die Wenigsten. Erschöpft steckte Amelie ihr Tagebuch unter die Matratze und betrachtete die Decke, die sie mit ihren Zeichnungen verziert hatte. Über dem Rand des Bettes hatte sie angefangen, kein Bild, das sie hinauf geklebt hatte, glich dem anderen. Einmal in der Woche kam ein neues Blatt an die Wand und immer war es in einer anderen Stimmung gezeichnet. Manchmal traurig, feierlich oder gar hoffnungsvoll. Andere Farben, außer schwarz und weiß, hatte sie allerdings noch nie verwendet, was sie auch nicht vorhatte. Laut ihrer Mutter, die ihre Gefühle überhaupt nicht nachvollziehen konnte, glich ihr
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