Schwur der Sünderin
sie vor. »Ich werde Wache halten.«
Als Fleischhauer nach unten gegangen war, küsste Anna Maria Veits Stirn und setzte sich so, dass sie ihn sehen und sich gegen das Dachgebälk lehnen konnte. Sie starrte auf das Stückchen Boden, dass sie zwischen ihren Füßen erkennen konnte.
Die Prophezeiung, die Fleischhauer in der Nacht ausgesprochen hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf.
»Im Herbst wirst du es selbst herausfinden.« Im ersten Augenblick hatte Anna Maria nicht verstanden, was er meinte, doch rasch war es ihr klar geworden. Die Vorstellung, dass sie von diesem Unmenschen, der sie vergewaltigt hatte, schwanger sein könnte, raubte ihr die Luft zum Atmen. »Es darf nicht sein, dass ich von diesem widerwärtigen Menschen ein Kind bekomme«, jammerte sie leise. Doch im nächsten Augenblick versuchte sie sich zu beruhigen und beschloss: Ich werde mir erst Gedanken darüber machen, wenn mein Blutfluss ausbleibt.
Zwei Tage später war Veits Gesundheitszustand unverändert. Johann und Hauser kamen in der Nacht vorbei, um nach ihm zu schauen. Hauser brachte einen Beutel mit Essen mit. »Das soll ich dir von Else, Lena, Sarah und Annabelle geben und dir ausrichten, dass sie für Veit beten und Tag und Nacht eine Kerze brennen lassen.«
Anna Maria dankte ihm und fragte besorgt: »Wo ist Vater?«
»Dein Vater wollte sich im Ort nicht blicken lassen, weil niemand weiß, dass er von seiner Pilgerfahrt zurück ist«, erklärte Hauser und zwinkerte ihr zu. »Habt ihr schon die Neuigkeiten gehört?«, fragte er ernst und blickte kurz zu Johann, der neben seinem Bruder auf dem Boden saß. Johann schaute auf, und Anna Maria glaubte ein kurzes Grinsen in seinem Gesicht zu erkennen.
Fleischhauer und Anna Maria schüttelten den Kopf.
»Ullein wurde verhaftet!«
»Warum?«, wollte Fleischhauer erstaunt wissen.
»Man hat die Leiche des alten Nehmenich gefunden und beschuldigt Ullein, dass er ihn umgebracht hätte.«
»Wie kommt man darauf, dass ausgerechnet Ullein das getan haben soll?«, fragte Anna Maria zweifelnd.
»Ullein hat gegenüber Nehmenichs Frau und Kindern gedroht, ›den Alten einen Kopf kürzer zu machen‹, wenn er ihn erwischen würde.« Hauser machte eine kurze Pause und sagte dann: »Nehmenich wurde geköpft.«
»Herr im Himmel!«, flüsterte Anna Maria und fauchte im nächsten Augenblick: »Ich wünsche Ullein die gleichen Qualen, die Veit ertragen musste.«
»Als man Ullein nach Kaiserslautern ins Gefängnis überführte, ahnte er, was auf ihn zukommen würde, und hat die Tat gestanden. Er wurde bereits verurteilt und soll in wenigen Tagen hingerichtet werden.«
Hauser blickte zu Fleischhauer, und beide Männer entspannten sich.
»Es gibt eine weitere Neuigkeit«, sagte Hauser leise. »In Kaiserslautern geht das Gerücht um, dass der Werwolf den Kerkermeister gefressen und sich dann in gelben Rauch aufgelöst haben soll. Angeblich wäre er durch den Kamin entschwunden.«
»Die Menschen wissen, dass es sich nur um Veit handeln kann«, gab Johann zu bedenken und blickte Anna Maria ernst an. »Wenn Veit überlebt, muss er aus Mehlbach verschwinden.«
Anna Maria schloss die Augen. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor. »Wenn Veit wieder gesund wird, dann werde ich ihm überallhin folgen«, flüsterte sie und blickte die Männer entschlossen an.
Mittlerweile waren mehrere Tage vergangen, seit Veit aus dem Gefängnis befreit worden war. Fleischhauer hatte ihm zum wiederholten Male das geheimnisvolle Gebräu verabreicht. »Schlaf ist die beste Medizin«, erklärte er Anna Maria. »So fühlt Veit keine Schmerzen, und der Körper kann heilen. Wichtig ist, dass wir ihm genug zu trinken geben.«
Seitdem befeuchtete Anna Maria in regelmäßigen Abständen Veits Lippen mit einem nassen Tuch.
Die Zeit rann dahin. Anna Maria lebte seit vielen Tagen, von den Katzweiler Einwohnern unbemerkt, unter dem Dach des Arzthauses. Jeden zweiten Tag kam am späten Abend einer ihrer Brüder, Hauser, Johann oder ihr Vater vorbei, die ihr das Neueste von zu Hause berichteten. Peter schwärmte von seinem kleinen Sohn, den Anna Maria nur einmal gesehen hatte.
Wenn Anna Maria von dem kleinen Peter-Matthias hörte, krampfte sich ihr Herz zusammen, denn seit letzter Woche vermutete sie, dass sie tatsächlich schwanger sein konnte.
Ihre Monatsblutung kam zwar seit jeher unregelmäßig, doch als sie jetzt nach wie vor ausblieb, war sie sich sicher, dass das
nur eines bedeuten konnte. Obwohl sie täglich gebetet hatte,
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