Science Fiction Almanach 1981
glatten, fünfzehn Meter langen Felsblock dahin. Für einen erfahrenen Kletterer wäre das natürlich kein großes Hindernis gewesen, denn für ihn ist ein dreißig Zentimeter breiter Weg beinahe ebenso bequem wie eine vierspurige Autobahn. Kendricks machte einen nerv ö sen Witz darüber, daß er sich wie ein Seiltänzer vorkäme, aber als die Reihe dann an ihm war, brachte er den Weg mit aller Sorgfalt und ohne das Gleichgewicht zu verlieren hi n ter sich. Die Amateure – Lerrys Ridenow, Regis und Rafe – nahmen den Grat ohne zu zögern, aber ich fragte mich, ob sie auch mit ihm fertig geworden wären, wenn er weniger sicher gewesen und höher gelegen hätte. Für einen echten Bergsteiger bleibt ein Trampelpfad ein Trampelpfad, egal ob er über eine Wiese, einen fünfzig Zentimeter tiefen Abhang, am Rand eines zehn Meter tiefen Abgrundes oder über einen Bergrücken führt, der sich fünf Kilometer oberhalb des e r sten Lagers befindet.
Nachdem wir den Hang hinter uns gebracht hatten, wurde das Gehen schwieriger. Der Weg wurde steiler, war hier und da kaum noch als solcher zu erkennen und führte zwischen verfilzten Büschen und überhängenden Bäumen dahin, die sich eng aneinander drängten. Dann und wann behinderten ihre den Boden durchstoßenden Wurzeln unseren Aufstieg; manchmal hatten sie sogar mit beharrlicher Kraft Erdreich und Steine beiseite geschoben, und wir waren gezwungen, uns einen Weg durch das ineinander verwobene Unterholz zu bahnen, was einem Waldläufer sicherlich keine Schwi e rigkeiten bereitet hätte, unsere dem Boden angepaßten Kö r pern jedoch einen kräftigen Muskelkater bescherte. Einmal war der Weg dermaßen stark von durch Sturmfluten oder Wolkenbrüche angeschwemmtem Geäst und Blattwerk blockiert, daß wir uns über einen hundert Meter langen Felsvorsprung unter größten Anstrengungen daran vorbeia r beiten mußten. Der Weg erlaubte nie mehr als einem Mann gleichzeitig die Überquerung, und dieser mußte sich noch abstützen und jeden Schritt einzeln abwägen, um die Bala n ce zu halten. Von nun an beschwerte sich niemand mehr über das Seil.
Gegen Mittag hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, daß wir uns nicht mehr allein in der Wand aufhielten.
Es war zunächst nicht mehr als eine Bewegung, die ich aus den Augenwinkeln erfaßte – der Anflug eines Schattens. Als ich ihn zum vierten Mal sah, rief ich Kyla leise zu: „H a ben Sie etwas bemerkt?“
„Ich dachte schon, es hätte an meinen Augen oder an der Höhe gelegen. Ich habe es auch gesehen, Jason.“
„Halten Sie nach einem Platz Ausschau, an dem wir eine Pause machen können“, wies ich sie an. Wir kletterten über einen schmalen Grat, während die kaum zu erkennenden Schatten uns zu beiden Seiten folgten.
„Ich bin froh, wenn wir erst einmal hier heraus sind“, fl ü sterte ich dem Mädchen zu. „Zumindest werden wir dann sehen können, wer hinter uns her ist.“
„Wenn es zu einem Kampf kommt“, sagte sie überr a schenderweise, „würde ich es lieber hier auf dem Geröll durchstehen als auf dem Eis.“
Hinter einer Felswand erklangen brüllende Geräusche. Kyla schwang sich hinauf, balancierte auf einer verkrüppe l ten Baumwurzel dahin, legte die Hände seitlich an den Mund und rief: „Stromschnellen!“
Ich zog mich über den Rand hinweg, blieb stehen und schaute auf einen schmalen Gebirgsbach hinab. Der Weg, dem wir gefolgt waren, wurde an dieser Stelle von den ti e fen, brüllenden Fluten eines Gebirgsstromes gekreuzt.
Weniger als zehn Meter breit jagte die eisige Flut beinahe wie ein Wasserfall an uns vorbei. Sie stürzte oberhalb uns e res Aufenthaltsortes von einem hohen Vorsprung herab und hatte sich etwa zwei Meter tief in den Felsboden gegraben. Das Brüllen, das der Gebirgsstrom erzeugte, machte einen solchen Lärm, daß es im Inneren meines Kopfes vibrierte. Der Anblick, den er bot, war entsetzlich; jeder, der den Ve r such unternahm, ihn zu durchqueren, mußte in Sekunde n schnelle von den Füßen gerissen und von der Strömung Hunderte von Metern weit den Hang hinuntergespült we r den.
Rafe kletterte vorsichtig über den Uferrand, den der Strom in den Felsboden geschnitten hatte, und kniete sich hin, um eine Handvoll Wasser zu schöpfen und zu trinken.
„Verdammt, es ist kälter als die neunte Hölle Zandrus. Es muß direkt von einem Gletscher kommen!“
Er hatte recht. Ich erinnerte mich an den Weg und ebenso an diesen Platz. Kendricks trat zu mir an den Rand und fra g te: „Wie
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