Scriptum
Galerie herabkam. Jansson hatte der bildhübschen,
ehrgeizigen jungen Frau mit den kupferroten Haaren die Zeugenvernehmung übertragen. Was nur folgerichtig war, denn mit Amelia
Gaines unterhielt sich jeder gern. Hinter ihr lief eine blonde Frau, die eine Kleinausgabe ihrer selbst auf dem Arm trug.
Ihre Tochter, vermutete Reilly. Das Mädchen schien tief und fest zu schlafen.
Reilly betrachtete die Unbekannte genauer. In der Regel stellte die bezaubernde Amelia andere Frauen locker in den Schatten.
Diese hier nicht.
Obwohl sie recht mitgenommen wirkte, hatte sie eine faszinierende Ausstrahlung. Sie sah Reilly kurz direkt in dieAugen, dann richtete sie den Blick wieder auf die schuttbedeckten Stufen. Wer sie auch sein mochte, sie stand sichtlich unter
Schock.
Reilly beobachtete, wie sie sich zaghaft einen Weg durch die herumliegenden Trümmer zur Tür bahnte. Hinter ihr ging eine etwas
ältere Frau, die ihr entfernt ähnlich sah. Gemeinsam verließen sie das Museum.
Reilly drehte sich um und nahm den Gesprächsfaden wieder auf. «Der erste Durchgang ist immer eine enorme Zeitverschwendung,
aber wir müssen uns trotzdem an das übliche Verfahren halten und mit jedem Zeugen sprechen. Anders geht’s nicht.»
«In diesem Fall könnte man sich die Zeugenbefragung vermutlich komplett schenken. Schließlich wurde der gesamte verdammte
Überfall gefilmt.» Buchinski zeigte auf zwei Überwachungskameras, Teil des Sicherheitssystems des Museums. «Nicht zu vergessen
das ganze Material, das die Fernsehteams draußen aufgenommen haben.»
Gegen moderne Verbrecher konnten hochmoderne Sicherheitsmaßnahmen vielleicht etwas ausrichten. Mit mittelalterlichen Räubern
hoch zu Ross aber hatte wohl kaum jemand gerechnet. «Prima», erwiderte er und nickte. «Ich besorge schon mal Popcorn.»
KAPITEL 6
Kardinal Mauro Brugnone ließ seinen Blick durch den hohen Raum schweifen, der sich im Inneren des Vatikans befand, und musterte
seine Kardinalskollegen, die mit ihm um den mächtigen Mahagonitisch herum versammelt saßen. Als einziger anwesender Kardinalbischof
bekleidete Brugnone zwar einen höheren Rang als die anderen, aber er vermied es bewusst, am Kopf des Tisches zu sitzen. Er
legte auf eine möglichst demokratische Atmosphäre Wert, dabei wusste er nur zu gut, dass sich seiner Autorität letzten Endes
alle beugen würden. Das akzeptierte er, pragmatisch, nicht aus Stolz. Komitees ohne Führer brachten nie irgendetwas zuwege.
In der jetzigen unseligen Situation jedoch konnte ein Komitee, ob mit oder ohne Führer, ohnehin nicht viel ausrichten. Darum
würde Brugnone sich schon persönlich kümmern müssen. Das war ihm klar, seit er die ersten Fernsehberichte gesehen hatte, die
um die Welt gegangen waren.
Sein Blick verharrte schließlich auf Kardinal Pasquale Rienzi. Obwohl der Jüngste im Raum und lediglich Kardinaldiakon, war
Rienzi Brugnones engster Vertrauter. Wie alle übrigen Anwesenden war Rienzi sichtlich fassungslos in den vor ihm liegenden
Bericht vertieft. Er blickte auf und bemerkte, dass Brugnone ihn ansah. Prompt hüstelte der junge Mann, blass und ernsthaft
wie immer, leise.
«Wie konnte so etwas passieren?», fragte einer der geistlichen Würdenträger. «Im Herzen von New York? Im Metropolitan Museum …» Er schüttelte entgeistert den Kopf.
Wie lächerlich weltfremd, dachte Brugnone. In New York konnte alles geschehen. Hatte die Zerstörung des World Trade Center
das nicht bewiesen?
«Wenigstens ist der Erzbischof nicht zu Schaden gekommen», stellte ein anderer Kardinal düster fest.
«Die Räuber sind anscheinend entkommen. Man weiß also noch nicht, wer hinter dieser … Gräueltat steckt?», fragte eine weitere Stimme.
«In dem Land wimmelt es vor Kriminellen. Wahnsinnige, die von unmoralischen Fernsehprogrammen und sadistischen Videospielen
angestachelt werden», antwortete eine andere. «Schon seit Jahren sind die Gefängnisse dort hoffnungslos überfüllt.»
«Aber warum waren sie gerade
so
gekleidet? Rote Kreuze auf weißen Umhängen … das ist doch die Ordenstracht der Templer», sagte der Kardinal, der zuerst gesprochen hatte.
Eben, dachte Brugnone.
Genau das hatte bei ihm alle Alarmglocken läuten lassen. Warum waren die Täter als Tempelritter gekleidet? Hatten die Räuber
sich einfach tarnen wollen und zum erstbesten Kostüm gegriffen, das zufällig verfügbar war? Oder hatte die Aufmachung der
vier Reiter eine tiefere,
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