Scriptum
möglicherweise viel beunruhigendere Bedeutung?
«Was ist ein Rotorchiffrierer mit mehreren Walzen?»
Brugnone hob ruckartig den Blick. Die Frage war von dem ältesten anwesenden Kardinal gestellt worden. «Ein Rotor …?», fragte Brugnone.
Kurzsichtig spähte der alte Mann auf das ihnen ausgehändigteDokument. «‹Ausstellungsstück 129›», las er vor. «‹Sechzehntes Jahrhundert. Ein Rotorchiffrierer mit mehreren Walzen. Referenznummer
VNS 1098.› Davon habe ich noch nie gehört. Was soll das sein?»
Brugnone tat so, als würde er das Dokument studieren, die Kopie einer E-Mail mit einer vorläufigen Liste der bei dem Raub gestohlenen Objekte. Wieder überlief ihn ein Schauer – genau wie beim ersten
Mal, als er das Gerät auf der Liste entdeckt hatte. Aber er ließ sich nichts anmerken. Ohne den Kopf zu heben, warf er einen
verstohlenen Blick in die Runde. Keiner der Anwesenden zeigte irgendeine Reaktion. Wie auch? Von diesem Gerät wusste so gut
wie niemand.
Er schob das Blatt weg und lehnte sich zurück. «Was immer es sein mag», stellte er mit ausdrucksloser Stimme fest, «diese
Gangster haben es geraubt.» Er sah Rienzi an und neigte leicht den Kopf. «Vielleicht könnten Sie es übernehmen, uns auf dem
Laufenden zu halten. Treten Sie in Kontakt mit der Polizei und ersuchen Sie darum, dass man uns beständig über die Ermittlungen
informiert.»
«Das FBI ermittelt», berichtigte Rienzi ihn. «Nicht die Polizei.»
Brugnone zog eine Augenbraue hoch.
«Die amerikanische Regierung nimmt diese Sache sehr ernst», bekräftigte Rienzi.
«Und das sollte sie auch», ließ sich von der anderen Tischseite der älteste Kardinal barsch vernehmen. Der Greis schien, wie
Brugnone erleichtert feststellte, das Gerät schon wieder vergessen zu haben.
«Ganz recht», pflichtete Rienzi bei. «Man hat mir versichert, dass alles nur Menschenmögliche getan werde.»
Brugnone nickte und übertrug Rienzi dann mit einemBlick die weitere Leitung der Sitzung. Zugleich besagte dieser Wink:
Machen Sie bald Schluss
.
Immer schon hatten sich andere Menschen Mauro Brugnone gefügt, was wohl nicht zuletzt auf seine kraftstrotzende Erscheinung
zurückzuführen war. Die Kardinalsrobe täuschte darüber hinweg, doch seine Statur darunter war die eines stämmigen, breitschultrigen
kalabrischen Bauern. So ein Bauer wäre er geworden, wenn ihn nicht vor mehr als einem halben Jahrhundert der Ruf der Kirche
ereilt hätte. Seine grobschlächtige Erscheinung und das entsprechende Benehmen, das er über die Jahre kultiviert hatte, verleitete
andere nicht selten zu der Annahme, er sei nur ein einfacher Mann Gottes. Das war er auch, aber aufgrund seines hohen Ranges
in der Kirche hielten ihn viele auch für manipulativ und intrigant. Das war er nicht, aber er hatte sich nie die Mühe gemacht,
sie über ihren Irrtum aufzuklären. Bisweilen zahlte es sich aus, andere Menschen im Unklaren zu lassen, selbst wenn das ebenfalls
eine Form von Manipulation war.
Zehn Minuten später löste Rienzi die Versammlung auf, ganz wie gewünscht.
Während die anderen Kardinäle hinausgingen, verließ Brugnone den Sitzungsraum durch eine andere Tür und schritt durch einen
Gang zu einer Treppe, die ihn aus dem Gebäude hinaus in einen stillen Innenhof führte. Über einen überdachten, backsteingepflasterten
Weg erreichte er den Belvedere-Hof, wo er an der berühmten Statue des Apoll vorbeikam, und betrat dann die Gebäudeflucht,
in der ein Teil der riesigen vatikanischen Bibliothek untergebracht war – das
Archivio Segreto Vaticano
, das Geheimarchiv.
Eine irreführende Bezeichnung, denn besonders geheim war dieses Archiv gar nicht mehr. 1998 war ein großer Teil des Archivs
externen Wissenschaftlern und Forschern offiziell zugänglich gemacht worden, die, zumindest theoretisch, Zugriff auf seinen
streng gehüteten Inhalt erhielten. Unter den berüchtigten Dokumenten, die in seinen Regalreihen (welche nicht weniger als
vierzig Meilen Gesamtlänge erreichten) lagerten, befanden sich das handgeschriebene Protokoll des Prozesses gegen Galilei
und eine Bittschrift von Heinrich VIII., in der er um Annullierung seiner Ehe ersuchte.
Brugnone allerdings war unterwegs zu einem Ort, zu dem Außenstehende niemals Zutritt erhielten.
Grußlos eilte er durch staubige Hallen, in denen Bedienstete und Gelehrte tätig waren, und drang immer weiter vor in die Tiefen
des riesigen, düsteren Gemäuers. Er schritt
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