Scriptum
sie spürte, wie ihr Atem schneller ging und ihr
Mund ganz trocken wurde. Ihr Herz raste.
Das kann nicht sein. Unmöglich.
Sie rannte den Strand entlang, bis sie keuchend stehen blieb. Ihr war schwindlig vor Aufregung.
Dort lag die Galionsfigur, komplett mit Gurten und halb aufgeblasenen orangen Bojen.
Sie schien unversehrt.
KAPITEL 82
Vorsichtig berührte Tess die Figur mit der Hand. Sie strich darüber und fühlte sich in die Zeit der Templer zurückversetzt,
zu Aimard, seinen Männern und ihrer letzten schicksalhaften Fahrt auf der
Faucon du Temple.
Ein Gewirr von Bildern tanzte durch ihren Kopf, als sie versuchte, sich an Aimards Worte zu erinnern. Was genau hatte er gesagt?
Die Schatulle wurde in den ausgehöhlten Hinterkopf des Falken gesenkt. Die Zwischenräume füllte man mit Harz und bedeckte
alles mit einem passenden Holzstück, das mit Holzzapfen befestigt wurde. Auch von außen wurde alles noch einmal mit Harz versiegelt.
Minutiös untersuchte sie den Falkenkopf. Da waren Spuren von Harz. Mit geübten Fingern ertastete sie den Rand des Deckels
und die Zapfen. Die Siegel wirkten unversehrt, kein Wasser war in die harzverklebten Hohlräume gedrungen. Durchaus denkbar,
dass der Inhalt der Schatulle die Jahrhunderte unbeschadet überstanden hatte.
Sie schaute sich um und entdeckte zwei Steinbrocken, die sich als Hammer und Meißel eigneten. Die ersten Holzschichten konnte
sie mühelos abklopfen, doch der Rest widersetzte sich hartnäckig. Tess fand eine verrostete Eisenstange, mit der sie das Harz
abkratzte. Sie arbeitete fieberhaft und ohne Rücksicht auf die Grundregeln der Archäologie,bis sie schließlich mit den Fingern in die Höhlung unter dem Holzdeckel greifen und diesen hochstemmen konnte. Die Kante der
kleinen verzierten Schatulle wurde sichtbar. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, kratzte noch etwas Harz weg und hebelte
ihren Fund mit der Eisenstange heraus. Dann endlich konnte sie die Finger um die Schatulle schließen und sie herausheben.
Tess konnte ihre Aufregung nicht mehr unterdrücken. Der Schatz. Sie hielt ihn in ihren Händen. Obwohl mit filigranen silbernen
Beschlägen verziert, war die Schatulle erstaunlich leicht. Sie trug sie hinter einen großen Felsen, um sie genauer zu untersuchen.
Ein eiserner Haken ohne Schloss, dafür mit einem schmiedeeisernen Ring. Sie schlug mit dem Stein auf den Haken, bis er sich
vom Holz löste. Tess hob den Deckel und schaute hinein.
Vorsichtig nahm sie den Inhalt heraus. Ein Päckchen, das in geöltes Pergament gewickelt war, ähnlich dem, mit dem man das
Astrolabium geschützt hatte. Es war mit Lederriemen verschnürt. Sorgfältig entfaltete sie die Hülle. Darin lag ein Buch, ein
ledergebundener Kodex.
Tess ahnte, was es war.
Es kam ihr unerklärlich vertraut vor, das bescheidene Aussehen verriet in keiner Weise den außergewöhnlichen Inhalt. Mit zitternden
Fingern klappte sie den Kodex auf und betrachtete die Schrift auf dem ersten Pergament. Die Buchstaben waren verblichen, aber
noch lesbar. Als erster Mensch erblickte sie den sagenumwobenen Schatz der Templer, seit Guillaume de Beaujeu ihn vor siebenhundert
Jahren in die Schatulle gelegt und Aimard de Villiers anvertraut hatte.
Nur war er nicht länger eine Sage.
Er existierte tatsächlich.
Natürlich durfte man solche Untersuchungen ausschließlich in einem Labor, zumindest aber in einem geschützten Raum durchführen,
doch Tess konnte nicht widerstehen. Sie klappte den Kodex ein wenig weiter auf und lüftete eine Seite. Sie erkannte die vertraute
bräunliche Tinte der damaligen Zeit, die aus Kohlenruß, Harz, Weinsatz und der Tinte von Tintenfischen angerührt wurde. Die
Handschrift war schwer zu entziffern, doch Tess sah, dass es sich um Aramäisch handelte.
Wie gebannt schaute sie auf das schlichte Manuskript in ihrer Hand.
Aramäisch.
Die Sprache Jesu.
Das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie mehr und mehr Wörter erkannte.
Langsam, fast gegen ihren Willen begriff sie, was sie da in Händen hielt. Und wer dieses Pergament zuerst berührt, wer diese
Worte geschrieben hatte.
Dies waren die Schriften des Jeshua von Nazareth.
Die Schriften des Mannes, den die ganze Welt als Jesus Christus kannte.
KAPITEL 83
Tess wanderte langsam den Strand entlang. Das Päckchen mit dem Kodex hielt sie fest umklammert. Die Sonne ging unter, ein
letzter Lichtschein brach durch die graue Wolkenwand am Horizont.
Sie hatte die Schatulle
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