Scriptum
was Reilly im Vatikan erfahren hatte. Die ungeheuerliche Wahrheit
über ihren Fund vom Strand wurde von ebenjenen Leuten bestätigt, denen er am meisten schaden würde. Sie stand förmlich unter
Strom, wollte es aber nicht zeigen, gab sich verblüfft, fragte nach. Und hasste sich mehr und mehr für ihre Unaufrichtigkeit.
Am liebsten hätte sie Reilly den Kodex gezeigt, brachte es aber nicht über sich. Sein Gesicht zeugte von tiefem Unbehagen.
Dass die Kirche, wie Brugnone ihm offenbart hatte, auf einer Lüge gegründet war, schmerzte ihn sichtlich. Daher wollte sie
ihn noch nicht mit dem endgültigen und greifbaren Beweis belasten. Sie bezweifelte, ob sie jemals dazu in der Lage sein würde.
Reilly brauchte Zeit. Und auch sie musste gründlich nachdenken.
«Alles in Ordnung?», fragte sie zögernd.
Reilly schaute ins Leere, sein Gesicht verdüsterte sich, als er versuchte, seine Gedanken in Worte zu fassen.
«Komisch, aber diese ganze Sache in der Türkei, im Vatikan, dann der Sturm … alles kommt mir vor wie ein Albtraum. Vielleicht bin ich zu sehr mit Medikamenten voll gepumpt. Im Moment bin ich nur müde
und ausgelaugt, aber irgendwann wird es mich mit voller Wucht treffen.»
Tess musterte ihn. Nein, dies war definitiv der falsche Zeitpunkt, um es ihm zu sagen. «Vance und De Angelis haben bekommen,
was sie verdienten», erklärte sie stattdessen.«Und du bist am Leben. Da kann man doch seinen Glauben wiederfinden, oder?»
«Mag sein», entgegnete er skeptisch.
Reilly schaute sie an, während ihm allmählich die Augen zufielen, und ertappte sich dabei, wie er an die Zukunft dachte. Er
hatte meist von Tag zu Tag gelebt und war überrascht, dass ihn diese Gedanken nun ausgerechnet hier auf dieser entlegenen
Insel überfielen.
Flüchtig fragte er sich, ob er überhaupt beim FBI bleiben wollte. Er hatte seine Arbeit immer geliebt, doch dieser Fall traf
ihn ins Mark. Zum ersten Mal war er des Lebens müde, für das er sich entschieden hatte. Er wollte sich nicht mehr in die kranken
Hirne irgendwelcher Verbrecher hineinversetzen, war es leid, ständig dem Schlimmsten zu begegnen, das dieser Planet zu bieten
hatte. Ob er durch einen beruflichen Wechsel das Leben wieder schätzen lernen, gar seinen Glauben an die Menschheit wiederfinden
konnte?
Seine Lider sanken herab.
«Tut mir Leid», murmelte er, «wir reden später weiter.»
Tess sah, wie Reilly in einen tiefen Schlaf fiel. Sie fühlte sich selbst sehr erschöpft.
Sie dachte daran, wie sie bei seinem Scherz über den nächsten Urlaubsort gelächelt hatte. Ein Urlaub war genau das, was sie
jetzt brauchte, und sie wusste auch, wo sie ihn verbringen würde. Arizona wäre der Himmel auf Erden. Sie würde auf direktem
Weg dorthin fliegen, nur kurz in New York umsteigen und dann ihre Tochter in die Arme schließen. Falls es Guiragossian und
Konsorten nicht gefiel, sollten sie sich zum Teufel scheren.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass es im Südwesten eine Menge interessante Aufgaben für eine Archäologin gab. Phoenix besaß
ein Museum von Weltruf. Dann schaute sie Reilly an. Geboren und aufgewachsen in Chicago, von dort aus nach New York gezogen
und offenbar süchtig danach, immer mittendrin zu sein. Sie fragte sich, ob er all das für ein ruhiges Leben in einem Wüstenstaat
aufgeben würde. Auf einmal erschien ihr die Frage ungeheuer wichtig, wichtiger vielleicht als alles andere.
Tess trat auf den Balkon und schaute hinauf zu den Sternen. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie und Reilly allein
gezeltet hatten. Schon tagsüber war es still auf der Insel, doch nachts herrschte geradezu himmlische Ruhe. Solche Nächte
gab es in Arizona, nicht aber in New York. Was Reilly wohl dazu sagen würde, wenn sie das Manoukian Institute verlassen und
nach Arizona ziehen würde? Sie nahm sich vor, ihn bei passender Gelegenheit danach zu fragen.
Sie blickte auf das schimmernde Meer hinaus und überlegte, was sie mit dem Kodex anfangen sollte.
Zweifellos handelte es sich um einen der bedeutendsten archäologischen und religiösen Funde aller Zeiten, der für Hunderte
Millionen Menschen weit reichende Folgen haben würde. Wenn sie ihn der Welt präsentierte, würde sie den größten wissenschaftlichen
Ruhm seit der Entdeckung des Tutanchamun-Grabes vor achtzig Jahren ernten. Aber was würde aus den Menschen?
Sie wollte mit jemandem darüber sprechen.
Sie
musste
mit Reilly darüber sprechen.
Und
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