Scriptum
brachten ihr eine Baumwollhose, ein
Nachthemd, ein paar weiße Blusen und eine dicke Strickjacke, in die sie sich dankbar einkuschelte. Außerdem hatten sie einen
großen Tontopf mit dampfend heißem
Giuvetsi
dabei, einem Gericht aus Lammfleisch und Reisnudeln. Tess langte gierig zu und verschlang zu ihrer eigenen Überraschung eine
Riesenportion.
Später wirkte ein heißes Bad Wunder für ihre steifen Muskeln. Mavromaras hatte den Verband am Arm gewechselt, wo ein hässlicher
purpurroter Streifen an das Seil erinnerte. Sie hatte sich nicht von den freundlichen Einwänden ihrer Gastgeber abhalten lassen
und den ganzen Abend an Reillys Bett gesessen. Allerdings fiel es ihr schwer, mit ihm zu sprechen, wie es Angehörige von Komapatienten
häufig taten. Sie wusste nicht, ob es ihm tatsächlich helfen würde und ob er ausgerechnet ihre Stimme hören wollte. Sie gab
sich die Schuld an allem, und obwohl sie ihm eigentlich viel zu sagen hatte, wollte sie lieber erst dann mit ihm sprechen,
wenn er ihr auch antworten konnte. Sie wollte sich nicht aufdrängen, solange er nur hilflos zuhören konnte oder womöglich
gar nichts mitbekam.
Gegen Mitternacht war sie körperlich und seelisch so erschöpft, dass sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Sie kuschelte sich zwischen
zwei alte Kopfkissen und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen fühlte Tess sich stark genug, um das Haus zu verlassen und ihre steifen Beine zu bewegen. Es war windig,
regnete aber nicht mehr, und ein kurzer Spaziergang würde sicher Wunder wirken.
Vorher schaute sie noch bei Reilly hinein. Eleni war wie immer da und massierte sanft sein Bein. Dann erschien Mavromaras,
um ihn zu untersuchen. Reillys Zustand war immerhin stabil. Der Arzt erklärte, dass es in solchen Fällen keine allmählichen
Besserungen gebe. Was geschah, geschah meist plötzlich. Reilly könne durchaus jeden Moment ohne vorherige Anzeichen aufwachen.
Er sagte, er müsse noch zu einem Patienten auf der anderen Seite der Insel und werde in einigen Stunden zurück sein. Tess
begleitete ihn zum Wagen.
«Heute Morgen hat mich die Luftrettung aus Rhodos angerufen. Sie könnten morgen herkommen.»
Tess war sich nicht mehr sicher, ob sie Sean wirklich in ein Krankenhaus bringen wollte. «Ich habe über das nachgedacht, was
Sie sagten. Wie ist Ihre ehrliche Meinung?»
Der Arzt lächelte freundlich. «Die Entscheidung überlasse ich Ihnen. Das Krankenhaus ist ausgezeichnet, er wäre dort in guten
Händen, das kann ich Ihnen versichern.» Er schien ihre Unsicherheit zu bemerken und fügte hinzu: «Wir können noch abwarten.
Mal sehen, wie es ihm morgen früh geht.»
Sie überquerten die Straße und wichen einigen großen Pfützen aus, dann blieb der Arzt vor einem verbeulten Peugeot stehen.
Tess schaute die Straße entlang. Selbst bei dem trüben Wetter war der Ort atemberaubend. Reihen gepflegter neoklassizistischer
Häuser in warmen Pastelltönen schmiegtensich an den steilen Hang, der sich bis hinunter zum kleinen Hafen zog. Viele hatten dreieckige Giebel und rote Ziegeldächer.
Die überquellenden Abflussrinnen am Straßenrand spien Wasser aus, das sich in Sturzbächen über die steilen Stufen der Gehwege
ergoss. Der graue Himmel schien das nächste Unwetter anzukündigen.
«Was für ein Sturm», sagte Tess.
Mavromaras blickte hoch und nickte. «Schlimmer als alles, woran sich selbst die Ältesten hier erinnern können. Und das zu
dieser Jahreszeit …»
Tess dachte an den Sturm, der vor so langer Zeit die
Faucon du Temple
getroffen hatte. «Die Hand Gottes», murmelte sie.
Der Arzt zog fragend die Augenbrauen hoch. «Mag sein. Ich an Ihrer Stelle würde es allerdings eher als Wunder betrachten.»
«Als Wunder?»
«Natürlich. Es ist ein Wunder, dass Sie und Ihr Freund ausgerechnet an unserer Insel angespült wurden. Das Meer ist groß.
Etwas weiter nördlich, und Sie wären an der türkischen Küste gelandet, die dort felsig und vollkommen menschenleer ist. Die
Städte liegen alle auf der anderen Seite der Halbinsel. Ein bisschen weiter südlich, und Sie hätten die Insel verfehlt und
wären in der Ägäis gelandet …» Er nickte nachdenklich, zuckte die Achseln und warf die Tasche auf den Beifahrersitz. «Ich muss los. Bis heute Nachmittag.»
Tess wollte ihn noch nicht weglassen. Seine Gegenwart tröstete sie. «Kann ich ihm nicht irgendwie helfen?»
«Ihr Freund ist in guten Händen. Meine Frau ist eine ausgezeichnete
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