Scriptum
nächsten Morgen verbrachte sie an Reillys Bett. Nach dem Mittagessen brauchte sie frische Luft. Sie
beschloss, sich ein wenig weiter hinauszuwagen.
Der Sturm hatte sich zu einer starken Brise abgeschwächt, und aus den dunklen Wolken, die sich noch immer über der Insel ballten,
fiel kein Regen mehr. Der Ort gefiel ihr wirklich sehr. Er war unberührt von den Auswüchsen moderner Zeiten, der Charme der
Vergangenheit hatte hier überdauert. Die engen Gassen und malerischen Häuser wirkten beruhigend, das Lächeln der Vorübergehenden
tröstete sie. Mavromaras hatte erzählt, dass Symi nach dem Zweiten Weltkrieg schwere Zeiten durchgemacht hatte. Nach den Bombardierungen
durch Alliierte und Achsenmächte, die sich als Besatzerabwechselten, verließen viele Menschen die Insel. Erst vor wenigen Jahren war das Glück nach Symi zurückgekehrt. Die Wirtschaft
florierte, seit Athener und ausländische Touristen die Reize von Symi entdeckt hatten, alte Häuser kauften und liebevoll restaurierten.
Tess ging die steinernen Stufen der Kali Strata hinauf, vorbei am alten Museum, bis sie zu einer Burgruine gelangte. Die Burg
war im frühen fünfzehnten Jahrhundert von den Johannitern anstelle einer weit älteren Festung errichtet und im Zweiten Weltkrieg
von der Wehrmacht gesprengt worden, die auf diese Weise Munition entsorgte. Tess wanderte zwischen den uralten Mauern umher
und blieb vor einer Gedenkplatte für Philibert de Naillac stehen, den französischen Großmeister des Johanniterordens. Schon
wieder Ritter, selbst in diesem entlegenen Winkel der Welt, dachte sie, während sie den spektakulären Blick über den Hafen
und die schaumgekrönten Wellen genoss. Schwalben schossen aus den Bäumen neben den alten Windmühlen, und ein einsamer Trawler
verließ gerade den verschlafenen Hafen. Das unendlich weite Blau, das die Insel umgab, löste eine gewisse Unruhe in ihr aus.
Tess verdrängte ihr Unbehagen und beschloss, den Strand aufzusuchen, an dem sie und Reilly angeschwemmt worden waren.
Am zentralen Platz des Ortes fand sie einen Taxifahrer, der zum Kloster von Panormitis fuhr, welches nahe der kleinen Siedlung
von Marathounda lag. Nach einer kurzen, holprigen Fahrt setzte er sie am Ortsrand ab. Dort lief sie den beiden Fischern über
den Weg, die sie und Reilly gefunden hatten. Ein Strahlen ging über ihre Gesichter, und sie bestanden darauf, sie zu einer
Tasse Kaffee in die kleine Taverne des Ortes einzuladen, was Tess dankend annahm.
Obwohl sie sich schlecht verständigen konnten, bekam Tess mit, dass man weitere Trümmer des Tauchschiffs gefunden hatte. Sie
führten sie neben die Taverne, wo Bruchstücke aus Holz und Fiberglas aufgeschichtet waren, die man an den Stränden der Bucht
aufgesammelt hatte. Die Erinnerungen stürzten auf sie ein, und sie dachte traurig an die Männer der
Savarona
, die ihr Leben verloren hatten und deren Leichen man nie finden würde.
Sie bedankte sich bei den Fischern und ging zum verlassenen, windgepeitschten Strand. Die frische Brise duftete nach Meer,
und endlich spähte die Sonne durch die Wolken. Langsam schlenderte sie am Wasser entlang, während die Bilder jenes schicksalsträchtigen
Morgens auf sie eindrangen.
Ganz am Ende des Strandes, weit entfernt von der Ortschaft in der Mitte der Bucht, erreichte sie eine schwarze Felsformation.
Sie kletterte hinauf, setzte sich an eine flache Stelle und schlang die Arme um die Knie. Weit draußen ragte ein großer Felsen
aus dem Wasser, an dem weiße Gischt hochspritzte. Er wirkte bedrohlich, eine weitere Gefahr, der sie und Reilly entgangen
waren. Zwei Möwen stritten kreischend um einen toten Fisch.
Plötzlich liefen Tränen über ihre Wangen. Sie schluchzte nicht, musste auch nicht richtig weinen. Die Tränen kamen einfach
so. Und so unvermittelt, wie sie gekommen waren, versiegten sie auch. Tess spürte, dass sie zitterte, aber nicht vor Kälte.
Es war etwas Archaischeres, das aus ihrem tiefsten Inneren aufstieg. Um das Gefühl loszuwerden, stieg sie wieder hinunter
und entdeckte einen Pfad, der sich am Strand entlangschlängelte.
Sie überquerte drei schmale Meeresarme und fand sich nach einiger Zeit in einer entlegenen Bucht an der Südspitzeder Insel wieder. Hierher schien keine Straße zu führen. Ein jungfräulicher Halbmond aus Sand, begrenzt von einer Landzunge
mit einem gezackten Felsüberhang.
Eine seltsame Form erregte ihre Aufmerksamkeit. Tess blinzelte angestrengt,
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