Scriptum
sah, dass er etwas zwischen die Zähne geklemmt hatte.
Ein Stück Pergament.
Eine einzelne Seite des Kodex.
Ungläubig schaute sie auf das Blatt, das Reilly ihr reichte. «Immerhin können wir beweisen, dass es keine Einbildung war»,
stieß er atemlos hervor.
Lange betrachtete sie das Pergament in ihrer Hand. Alles, was sie seit dem Abend im Metropolitan Museum erlebt hatte, das
ganze Blutvergießen, die Angst und die inneren Kämpfe, kehrte in diesem Moment zurück. Ruhig lächelte sie Reilly zu, zerknüllte
das Pergament und warf es von der Klippe.
Sie schaute zu, wie es ins Wasser sank, und schlang die Arme um Reilly.
«Ich habe alles, was ich brauche», sagte sie. Dann stand sie auf und führte ihn weg vom Klippenrand.
EPILOG
Paris, März 1314
Die üppig geschmückte hölzerne Tribüne stand am Rande eines Feldes auf der Île de la Cité. Leuchtend bunte Wimpel flatterten
in der Brise, das schwache Sonnenlicht spiegelte sich in der farbenfrohen Kleidung der Höflinge und Paladine, die dort bereits
versammelt waren.
Müde und gebeugt stand Martin de Carmaux weit hinten in einer aufgeregt schnatternden Volksmenge. Er trug ein schäbiges braunes
Gewand, das er von einem Mönch geschenkt bekommen hatte.
Obwohl erst Anfang vierzig, wirkte Martin alt. Fast zwanzig Jahre lang hatte er in der grausamen Sonne des toskanischen Steinbruchs
geschuftet, angetrieben von den Peitschen der Aufseher. Er hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, als ein Erdrutsch – einer
der schlimmsten, die man dort je erlebt hatte – ein Dutzend Männer und einige Aufseher tötete. Martin und der Mann, an den
er gekettet war, nutzten den Tumult und die aufwirbelnden Staubwolken, um zu entkommen.
Trotz der jahrelangen Sklavenarbeit in dem verfluchten Tal, in dem er von der Außenwelt abgeschnitten war, kannteMartin nur ein Ziel. Er lief schnurstracks zum Wasserfall und suchte nach dem Felsen mit den kreuzförmigen Rissen, holte Aimards
Brief hervor und machte sich von neuem auf die lange Reise durch die Berge nach Frankreich.
Sein Weg hatte mehrere Monate gedauert, und die Rückkehr in die Heimat erwies sich als bittere Enttäuschung. Er hatte von
den Katastrophen erfahren, die die Tempelritter heimgesucht hatten, und als er sich Paris näherte, wurde ihm klar, dass es
zu spät war, das Schicksal des Ordens zu wenden.
Er hatte sich diskret umgehört. Alle seine Brüder waren tot oder lebten im Versteck. Über dem prachtvollen Pariser Tempel
wehte die königliche Flagge.
Er war allein.
Wie er nun in der schwatzenden Menge stand, erkannte Martin die grau gekleidete Gestalt von Papst Clemens, der die Stufen
zur Tribüne hinaufstieg und seinen Platz inmitten der pfauenbunten Höflingsschar einnahm.
Der Papst richtete seine Aufmerksamkeit auf die Mitte des Feldes, wo zwei Scheiterhaufen errichtet worden waren. Gerade zerrte
man zwei ausgemergelte Männer mit zerschmetterten Gliedern herbei, bei denen es sich um Jacques de Molay, den Großmeister
des Ordens, und Geoffroy de Charnay, den Präzeptor der Normandie, handelte.
Rasch band man sie auf dem Scheiterhaufen fest. Ein korpulenter Mann trat mit einer lodernden Fackel vor und schaute den König
fragend an.
Tiefe Stille senkte sich über die Menge, und Martin sah, wie der König achtlos die Hand hob.
Das Reisig wurde entzündet.
Rauch stieg auf, Flammen züngelten empor, die Zweige knackten und prasselten. Übelkeit befiel Martin, und er wäream liebsten davongelaufen, doch er spürte den Zwang, alles mit anzusehen und diesen Akt der Verderbtheit zu bezeugen.
Widerwillig drängte er sich nach vorn. Er sah, wie der Großmeister den Kopf hob und seinen Blick auf König und Papst richtete.
Selbst aus der Ferne wirkte das Bild beunruhigend. Molays Augen funkelten wilder als das Feuer, das seinen Körper bald verzehren
würde.
Trotz der erlittenen Qualen sprach der Großmeister mit kraftvoller Stimme. «Im Namen des Ordens der Tempelritter verfluche
ich dich, Philipp den Schönen, und deine Papstmarionette, und ich rufe den allmächtigen Gott an, dass ihr, noch bevor das
Jahr vorüber ist, vor seinen Thron befohlen werdet, um dort euer Urteil zu erwarten und auf ewig im Feuer der Hölle zu brennen …»
Mehr konnte Martin nicht hören, da das tosende Feuer die Schreie der Sterbenden erstickte. Dann drehte sich der Wind, Rauch
wehte über Tribüne und Menge, der den widerlichen Gestank verbrannten Fleisches mit sich führte. Der König
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