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Scriptum

Scriptum

Titel: Scriptum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Khoury
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verschweigen durfte.
     
    Nachdem sie ihm nachmittags aus dem Weg gegangen war, spazierten sie am Abend Hand in Hand zur Burgruine hinauf. Das Bündel
     hielt sie in der anderen Hand; sie hatte die Strickjacke herumgewickelt. Die Sonne war schon fast verschwunden, der Himmel
     in ein verschleiertes rosiges Licht getaucht.
    Sie legte die Jacke auf eine halb eingestürzte Mauer und drehte sich zu Reilly um. Als sie ihn ansah, musste sie heftig schlucken.
    «Ich   …» Plötzlich überkamen sie Zweifel. Wenn sie es nun einfach versteckte, ignorierte, nie erwähnte? Sie dachte daran, was seinem
     Vater zugestoßen war. Täte sie ihm nicht einen Gefallen, wenn sie verschwieg, dass sie es gefunden, gesehen, berührt hatte?
    Nein. So stark der Drang auch war, es wäre grundfalsch. Nie wieder wollte sie unaufrichtig zu ihm sein, ihre Fehler reichten
     für ein ganzes Leben. Tief im Inneren hoffte sie noch immer auf eine gemeinsame Zukunft, und die war mit dieser unausgesprochenen
     Lüge zwischen ihnen absolut undenkbar.
    Auf einmal wurde sie sich der tiefen Stille bewusst, die sie umgab. Die tschilpenden Spatzen waren verstummt, als würden sie
     auf die beiden Menschen Rücksicht nehmen. Tess fasste sich ein Herz. «Ich will dir schon seit Tagen etwas sagen, ganz ehrlich,
     aber ich wollte warten, bis es dir besser geht.»
    Reilly schaute sie unsicher an. Er schien ihr Unbehagen deutlich zu spüren. «Was denn?»
    Ihr Magen schien sich zu verknoten. «Ich muss dir etwas zeigen.» Sie wickelte den Kodex aus der Jacke.
    Überrascht schaute Reilly ihn an, dann blickte er ihr prüfend ins Gesicht. Nach einer Ewigkeit fragte er: «Wo hast du das
     gefunden?»
    Sie konnte das alles nicht schnell genug loswerden. «Der Falke wurde an einem Strand einige Buchten weiter angespült. Er war
     noch an den Bojen befestigt.»
    Sie sah zu, wie Reilly den Ledereinband untersuchte, den Kodex behutsam aufnahm und einen Blick hineinwarf. «Erstaunlich.Es sieht so   … schlicht aus.» Er schaute Tess fragend an. «Kannst du die Schrift lesen?»
    «Nein, aber ich kann sehen, dass es Aramäisch ist.»
    «Die richtige Sprache, oder?»
    Sie nickte zögerlich.
    Geistesabwesend betrachtete er den uralten Einband, schien ihn zentimeterweise mit den Augen abzutasten. «Was meinst du? Ist
     es echt?»
    «Keine Ahnung. Es sieht ganz danach aus, aber ohne eine gründliche Untersuchung gibt es keine definitive Antwort. Wir müssten
     den Kodex mit der Radiokarbonmethode datieren, die Zusammensetzung von Papier und Tinte analysieren, das Manuskript auf kalligraphische
     Übereinstimmungen prüfen   …» Sie holte tief Luft. «Aber ich finde, wir sollten den Kodex nicht ins Labor schicken. Wir sollten ihn überhaupt nicht untersuchen
     lassen.»
    Er neigte verwundert den Kopf. «Was soll das heißen?»
    «Ich will damit sagen, wir sollten vergessen, dass wir ihn je gefunden haben», erklärte sie nachdrücklich. «Das verdammte
     Ding verbrennen und   –»
    «–   und was?», konterte er. «Tun, als hätte es nie existiert? Das geht nicht. Falls es nicht echt ist, von den Templern gefälscht
     wurde oder es sich um einen bloßen Scherz handelt, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Sollte es doch echt sein, dann   …» Er verstummte.
    «Dann sollte niemand davon erfahren», beharrte sie. «Mein Gott, hätte ich es dir nur nicht erzählt.»
    Reilly sah sie verblüfft an. «Verstehe ich dich richtig? Was ist aus den Leuten geworden, denen wir ‹die Wahrheit schulden›?»
    «Ich habe mich geirrt. Ich habe meine Meinung geändert.»Tess stieß einen tiefen Seufzer aus. «Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer nur die Schattenseiten der Kirche gesehen.
     Die blutige Geschichte, die Gier, die archaischen Dogmen, die Intoleranz, die Missbrauchsskandale   … man mag es schon gar nicht mehr hören. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die Kirche eine Generalüberholung nötig hat.
     Aber was ist schon vollkommen? Und wenn es funktioniert, wenn man das Mitgefühl, die Herzenswärme und die Großzügigkeit der
     Menschen erlebt   … dann sieht man, worin das wahre Wunder besteht.»
    Plötzlich erklang langsamer rhythmischer Applaus, der in den verlassenen Ruinen widerhallte.
    Tess drehte sich um und sah Vance hinter einer Mauer hervortreten. Er klatschte weiter, die Augen auf sie geheftet, den Mund
     zu einem beunruhigenden Grinsen verzogen.

KAPITEL 85
    «Sie hatten also eine Erleuchtung. Ich bin tief bewegt, Tess. Unsere unfehlbare

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