Scriptum
Windmühlen waren außer Sichtweite. Zu seiner
Rechten ragte der Hügel steil empor, links fiel der abschüssige Felshang bis zum Meer hin ab. Ihm blieb keine Wahl. Reilly
oder weiterlaufen. Er entschied sich für Letzteres.
Reilly atmete schwer. Seine Beine waren wie Gummi, die Oberschenkelmuskeln brannten, obwohl er noch nicht weit gerannt war.
Er stolperte über einen Stein und hätte sich beinahe den Fuß verstaucht. Als er sich aufrichtete, wurde ihm schwindlig. Er
holte tief Luft, schloss die Augen und konzentrierte sich, um seine Energiereserven zu sammeln. Dann sah er Vance verschwinden.
Er zwang sich, weiterzulaufen.
Vance kämpfte sich über die glatten Felsen, bis er die Spitze einer hohen Klippe erreicht hatte. Er saß in der Falle. Tief
unter ihm gähnten schroffe Felsen, über die rhythmisch weiße Gischt spritzte.
Hastig wandte er sich um.
Reilly hatte die Klippe erreicht und kletterte auf einenFelsbrocken. Die Männer waren auf Augenhöhe, etwa zehn Meter voneinander entfernt.
Vance rang nach Luft und warf einen wütenden Blick um sich. Dann scherte er nach rechts aus, wo der Boden fester zu sein schien.
Reilly folgte ihm.
Vance rannte am Steilufer entlang, das aussah, als wären Stufen in den Stein gehauen. Keine zwanzig Meter weiter verfing er
sich in einem Spalt und stolperte.
Reilly spürte, wie wenig Kraft ihm geblieben war, und nutzte seine Chance. Er warf sich nach vorn und griff nach Vance’ Fußknöcheln.
Knapp, aber es reichte. Er kroch näher, wollte die Beine packen, doch seine Arme waren zu schwach. Vance rollte sich herum
und rutschte rückwärts, den Kodex noch immer fest in der Hand. Er trat nach Reilly, erwischte ihn im Gesicht, sodass er ein
Stück den Hang hinabschlitterte. Schon war Vance wieder auf den Füßen.
Lähmende Benommenheit überfiel Reilly, sein Kopf war bleischwer. Er wollte den Nebel abschütteln und aufstehen, da hörte er
Tess hinter sich.
«Lass ihn gehen, Sean! Das schaffst du nicht!»
Er schaute zu Vance, der kaum von der Stelle kam, und machte eine warnende Geste zu Tess. «Lauf zurück und hol Hilfe.»
Doch sie war schon da und umarmte ihn keuchend. «Bitte! Es ist zu gefährlich. Es ist nicht wert, dass wir beide dafür sterben.»
Reilly lächelte. Er sah sie an und erkannte mit absoluter Gewissheit, dass er mit dieser Frau den Rest seines Lebens verbringen
wollte. Da ertönte ein entsetzter Schrei. Sie fuhren herum und sahen Vance den glatten, steilen Felsen hinabrutschen,den er gerade hatte überqueren wollen. Seine Finger suchten verzweifelt Halt, doch die schwarzen Steine waren wie poliert.
Reilly sprang auf und lief zu ihm hin. Vance hatte einen schmalen Sims gefunden, auf dem er stehen konnte. Reilly beugte sich
über die Kante und sah, wie Vance sich mit einer zitternden Hand an die Felswand klammerte und mit der anderen den Kodex hielt.
«Nehmen Sie meine Hand.» Er streckte den Arm so weit er konnte aus.
Vance blickte mit vor Panik geweiteten Augen zu ihm hoch und hob die Hand mit dem Kodex, erreichte Reilly aber nicht. «Ich
kann nicht», stammelte er.
Da gab der Sims unter seinem linken Fuß nach. Instinktiv ließ er den Kodex los, der auf einen Felsvorsprung prallte. Der Deckel
klappte auf, einzelne Seiten wirbelten hoch, segelten durch die salzige Luft und kreiselten hinunter ins schäumende Wasser.
Reilly öffnete den Mund zu einem Schrei, doch zu spät.
Vance hatte verzweifelt nach den Blättern in der Luft gegriffen. Er stürzte mit ausgebreiteten Armen vom Sims, umgeben von
flatternden Buchseiten, die ihn zu verhöhnen schienen. Sein Körper schlug auf den Felsen auf und blieb zerschmettert liegen.
Tess griff vom festen Terrain aus nach Reilly. Gemeinsam krochen sie an den Rand der Klippe und schauten in die Schwindel
erregende Tiefe. Vance lag da, unnatürlich verkrümmt, die Wellen brandeten um ihn herum und bewegten seine Leiche wie eine
leblose Puppe. Ringsumher waren die uralten Manuskriptseiten verstreut, deren Tinte im salzigen Wasser zerfloss wie das Blut
aus den Wunden des Toten.
Reilly hielt Tess fest an sich gedrückt und schaute ernst nach unten, wo die letzten Seiten von der wogenden Gischt verschlungen
wurden. Wir werden es wohl nie erfahren, dachte er düster.
Plötzlich entdeckte er etwas.
Er ließ Tess los und kletterte rasch ein Stück den Hang hinunter.
«Was machst du?», rief sie und beugte sich besorgt vor.
Schon tauchte er wieder auf. Sie zog ihn hoch und
Weitere Kostenlose Bücher