SdG 04 - Die eisige Zeit
mit den Händen zu greifen – selbst jetzt kann ich in deinen Augen sehen, dass meine Worte es neu entfacht haben. Beschreibe mir deine Visionen, Mhybe.«
Mühsam stieß sie ein raues, gebrochenes Lachen aus. Ihr Herz hämmerte schmerzhaft. »Ihr seid alle Narren. Würdest du danach trachten, meinen Feind herauszufordern? Meinen tödlichen Feind, dem man sich nicht widersetzen kann? Wirst du dein Schwert ziehen und hier statt meiner stehen?«
Elster machte ein finsteres Gesicht und entgegnete: »Wenn das helfen würde.«
»Das ist nicht notwendig. Was mich in meinen Träumen heimsucht, sucht uns alle heim. Oh, vielleicht machen wir sein schreckliches Antlitz weicher, die Dunkelheit einer Kapuze, eine vage menschliche Gestalt, selbst das Grinsen eines Totenschädels, das nur kurzfristig erschreckt, aber dennoch höchst vertraut bleibt – fast schon tröstlich. Und wir bauen Tempel, um die Reise in seine ewige Domäne leichter zu machen. Wir stellen Tore auf, bauen Grabhügel – «
»Dein Feind ist der Tod?« Elster schaute weg, blickte ihr dann wieder in die Augen. »Das ist Unsinn, Mhybe. Du und ich, wir sind beide schon zu alt, um den Tod noch zu fürchten.«
»Von Angesicht zu Angesicht mit dem Vermummten!«, schnappte sie. »So siehst du es – du Narr! Er ist nur die Maske, hinter der sich etwas versteckt, das weit über alles hinausgeht, was du verstehen kannst. Ich hob es gesehen! Ich weiß, was mich erwartet! Und das macht mir Angst!«
»Dann sehnst du dich nicht mehr danach – «
»Ich habe mich geirrt – damals. Ich habe an die Geisterwelt meines Stammes geglaubt. Ich konnte die Geister meiner Vorfahren spüren. Aber in Wirklichkeit sind sie nichts anderes als Erinnerungen, die sich offenbaren, ein Gefühl des Ichs, das sich mit der Kraft des eigenen Willens verzweifelt zusammenhält. Wenn jener Wille versagt, ist alles verloren. Für immer.«
»Ist Vergessenheit denn so schrecklich, Mhybe?«
Sie beugte sich nach vorn, packte die Seite des Wagens mit zu Klauen gekrümmten Fingern, mit Nägeln, die sich tief in das verwitterte Holz gruben. »Was dahinter liegt, ist nicht Vergessen, Unwissender! Nein, stell dir einen Ort vor, an dem es von vereinzelten Erinnerungen wimmelt – Erinnerungen an Schmerzen, an Verzweiflung – all die Gefühle, die sich am tiefsten in unsere Seelen eingraben.« Geschwächt sank sie wieder zurück und seufzte langsam, die Augen geschlossen. »Liebe treibt davon wie Ascheflocken, Elster. Selbst die Persönlichkeit ist dahin. Stattdessen ist alles, was von dir geblieben ist, zu einer Ewigkeit aus Schmerzen und Entsetzen verdammt – ein Strom von Bruchstücken jedes Menschen – jedes Wesens –, das je gelebt hat. In meinen Träumen … stehe ich am Rande. In mir ist keine Kraft – mein Wille hat sich bereits schwach und unzuverlässig gezeigt. Wenn ich sterbe … ich kann sehen, was mich erwartet, ich sehe, was nach mir hungert, nach meinen Erinnerungen, meinen Schmerzen.«
Sie öffnete die Augen und blickte ihn an. »Es ist der wahre Abgrund, Elster. Jenseits all der Legenden und Geschichten ist es der wirkliche Abgrund. Und er lebt durch sich selbst, verzehrt von einem gierigen Hunger.«
»Träume sind manchmal nichts anderes als das, was die Einbildungskraft aus den eigenen Ängsten macht«, sagte der Malazaner. »Du erfindest eine gerechte Strafe für das, was du als Fehler deines Lebens empfindest.«
Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Geh mir aus den Augen«, grollte sie und wandte sich ab, zog sich die Kapuze fester über den Kopf, schloss die Welt aus, alles, was jenseits der verbogenen, fleckigen Planken des Wagenbetts lag. Fort mit dir, Elster, und mit deinen Worten, die wie Schwerthiebe fallen, fort mit deiner Unwissenheit, dieser undurchdringlichen Rüstung. Du kannst nicht einfach auf all das, was ich gesehen habe, mit einer einzigen Erklärung antworten. Ich bin kein Stein für deine groben Hände. Die Knorren in mir widerstehen deinem Meißel.
Deine Worte, die du wie Schwerthiebe einsetzt, werden nicht bis in mein Herz dringen.
Ich wage es nicht, deine Weisheit zu akzeptieren. Ich wage – Elster. Du elender Bastard.
Der Kommandant ritt im leichten Galopp durch den Staub, bis er die Vorhut der malazanischen Armee erreichte.
Hier fand er Dujek, auf der einen Seite von Korlat, auf der anderen von dem Daru Kruppe flankiert. Letzterer schwankte unsicher auf einem Maultier und wedelte mit den Händen, um die Mückenschwärme zu
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