SdG 05 - Der Tag des Sehers
Sammelstelle für die Verteidiger der Mauer geworden.
Der große Eingang bestand aus einer dicken Bronzetür, deren Angeln in einen steinernen Rahmen versenkt worden waren. Ein breiter, von zwei Marmorsäulen getragener Ziergiebel ragte über den Eingang hinaus; das Dach wimmelte nur so von gemeißelten Dämonenköpfen, deren Mäuler offen standen und aus denen jetzt die letzten Tropfen kochenden Wassers fielen, das sich auf die schreienden Scalandi ergossen hatte, die gegen die Tür gehämmert hatten.
Grantl und seine Truppe, die sich noch immer nicht von dem heftigen Zusammenstoß mit fünfzehn Urdomen erholt hatten, bei dem die meisten Milizionäre in Stücke gehackt worden waren – bevor Grantl die beiden letzten Pannionier eigenhändig niedergestochen hatte –, waren von hinten über den Scalandi-Mob gekommen.
Der Kampf war kurz und brutal gewesen. Nur der Lestari-Sergeant zeigte einen Anflug von Barmherzigkeit, als er den Scalandi, die von dem kochenden Wasser übel verbrüht worden waren, die Kehlen durchschnitt. Nachdem ihre Schreie verstummt waren, wurde es plötzlich still.
Grantl hatte sich neben einen Leichnam gekauert und wischte seine Macheten an der Tunika des Toten ab. Die Muskeln in seinen Armen und Schultern fühlten sich bleischwer an und zitterten.
Die nächtliche Brise war stärker geworden; sie roch nach Salz und trieb den Rauch landeinwärts. Noch immer loderten überall genug Brände, um die Dunkelheit zu vertreiben.
»Schaut Euch das an.«
Der Karawanenführer sah zu dem Lestari-Sergeanten hinüber und folgte dann seinem Blick.
Im Südosten, nur ein paar Straßenzüge entfernt, ragte der Knecht in die Nacht. Die ganze Festung glühte schwach.
»Was glaubt Ihr, was geht da vor?«, murmelte der grauhaarige Soldat.
Irgendeine Art von Zauberei.
»Bestimmt ein magisches Ritual«, fuhr der Sergeant fort. »Wahrscheinlich so ’ne Art Schutzzauber. Beim Vermummten, das könnten wir auch brauchen. Wir sind am Ende, Herr – ich bin ziemlich im Arsch, und was die anderen angeht …«Er beäugte das Dutzend Capanthall, die auf dem Boden hockten oder knieten oder sich an die Hauswand lehnten, und schüttelte den Kopf. »Die sind alle erledigt.«
Kampfgeräusche näherten sich von Südwesten.
Das Knirschen von Rüstungen vom Dach des Lestar-Hauses ließ Grantl emporschauen. Ein halbes Dutzend Capanthall blickten zu ihnen herab. »Gut gemacht, wer immer Ihr auch seid!«, brüllte einer herunter.
»Was könnt Ihr von da oben sehen?«, rief der Sergeant hinauf.
»Wir haben das Nordtor zurückerobert! Graue Schwerter, verdammt noch mal, fast tausend Mann. Die Pannionier wanken und weichen.«
»Graue Schwerter«, murmelte der Lestari leise. Er warf Grantl einen düsteren Blick zu. » Wir haben das Nordtor zurück–«
»Aber wir halten es nicht, oder?«, grollte Grantl und streckte sich. Er wandte sich seiner dürftigen Truppe zu. »Passt auf, ihr rückgratlosen Capan. Wir sind noch lange nicht am Ende.«
Stumpfe, ungläubige Blicke antworteten ihm.
»Es hört sich an, als ob das Westtor hinüber wäre. Und als ob unsere Verteidiger zurückweichen. Was entweder bedeutet, dass sie ihre Offiziere verloren haben – oder dass ihre Offiziere einen Scheißdreck wert sind. Sergeant, du bist ab jetzt Leutnant. Ihr anderen, ihr seid Sergeanten. Wir müssen ein paar verängstigte Soldaten einsammeln. Auf geht’s, im Laufschritt – schließlich sollt ihr nicht alle noch ganz steif werden.« Grantl starrte sie an, rollte dabei die Schultern und schlug seine Macheten gegeneinander. »Folgt mir.«
Er trabte die Straße entlang, auf das Westtor zu. Einen Augenblick später folgten ihm die anderen.
Zwei Glockenschläge bis zur Morgendämmerung. Im Norden und im Osten war der Kampflärm schwächer geworden. Dort hatten Itkovians Gegenangriffe den erwünschten Erfolg gehabt: Die Tore und Mauern waren zurückerobert worden. An diesen Seiten gab es keine Kämpfe mehr, weil es an Angreifern mangelte. Zumindest für den Rest dieser Nacht.
Vor einem Glockenschlag war Brukhalian mit Karnadas im Schlepptau aus dem Knecht zurückgekehrt. Das Todbringende Schwert hatte die sechshundert Rekruten zusammengezogen, die der Schild-Amboss in Reserve gehalten hatte, außerdem zwei Mähnen und zwei Flügel, und war zum Jelarkan-Platz aufgebrochen, wo sich gerüchteweise über tausend Bekliten in die Stadt hineingedrängt hatten und drohten, den inneren Verteidigungsring zu überrennen.
Die Situation am Westtor
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