SdG 07 - Das Haus der Ketten
sie fanden nichts, was ihnen an den T’lan Imass und dem einen Sterblichen gefallen hätte, dennoch umkreisten sie die Gruppe in dichten, summenden Wolken. Nach kurzer Zeit wurde die Marschlandschaft von aufgeworfenen Kuppeln aus Grundgestein abgelöst; der tiefer gelegene Erdboden zwischen ihnen war von steilen Hängen eingefasst, auf denen aus undurchdringlichem Unterholz tote Pinien aufragten. Dann verschmolzen die Kuppeln zu einer hoch gelegenen Brücke, auf der die vier nun leichter vorankamen.
Es begann zu regnen, ein stetiges Nieseln, das den Basalt schwarz und glitschig machte.
Onrack konnte Trull Sengars schwere Atemzüge hören und spürte die Erschöpfung seines Kameraden. Doch von dem Tiste Edur kam keine dringende Bitte zu rasten, auch wenn er seinen Speer immer häufiger als Wanderstab benutzte, während sie mühsam weiterstapften.
Bald trat Wald an die Stelle der nackten Felsen, ging allmählich vom Nadelwald in Laubwald über, und die Hügel machten flacherem Gelände Platz. Der Wald wurde lichter, und plötzlich, hinter einer Linie aus ineinander verschlungenen, umgestürzten Bäumen, hörte der Regen auf, und vor ihnen erstreckte sich eine weite Ebene. Onrack hob eine Hand. »Wir sollten hier Halt machen.«
Ibra Gholan, der zehn Schritt voraus war, blieb stehen und drehte sich um. »Warum?«
»Essen und ausruhen, Ibra Gholan. Du hast vielleicht vergessen, dass diese Dinge zu den Bedürfnissen der Sterblichen zählen.«
»Das habe ich nicht vergessen, Onrack der Zerbrochene.«
Trull Sengar ließ sich auf den grasbewachsenen Boden sinken. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sagte: »Man nennt es Gleichgültigkeit, Onrack. Schließlich bin ich das am wenigsten wertvolle Mitglied dieses Kriegstrupps.«
»Die Abtrünnigen werden keine Pausen auf ihrem Marsch machen«, erwiderte Ibra Gholan. »Und wir sollten das auch nicht.«
»Dann geht weiter«, schlug Onrack vor.
»Nein«, befahl Monok Ochem. »Wir gehen zusammen. Eine kurze Ruhepause wird sich nicht als große Unannehmlichkeit erweisen, Ibra Gholan. Außerdem möchte ich, dass der Tiste Edur uns etwas erzählt.«
»Worüber, Knochenwerfer?«
»Über dein Volk, Trull Sengar. Was ist geschehen, dass es nun vor dem Angeketteten niederkniet?«
»Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, Monok Ochem.«
Ibra Gholan trat zu den anderen. »Ich werde jagen«, sagte der Krieger und verschwand in einem Staubwirbel.
Der Tiste Edur betrachtete einen Augenblick die geriefte Spitze seiner neuen Waffe, dann legte er den Speer ab und seufzte. »Leider ist es eine lange Geschichte. Und genau betrachtet bin ich nicht mehr die erste Wahl, um sie in einer Weise zu erzählen, die du nützlich finden magst – «
»Warum?«
»Weil ich ein Geschorener bin, Monok Ochem. Es gibt mich nicht mehr. Für meine Brüder und mein Volk hat es mich sogar niemals gegeben.«
»Im Angesicht der Wahrheit sind solche Behauptungen bedeutungslos«, sagte Onrack. »Du bist hier bei uns. Es gibt dich. Genau so wie deine Erinnerungen.«
»Es hat Imass gegeben, die verbannt wurden«, sagte Monok Ochem mit seiner krächzenden Stimme. »Doch wir sprechen noch immer von ihnen. Wir müssen von ihnen sprechen, um andere zu warnen. Welchen Wert hat eine Geschichte, wenn sie nicht lehrreich ist?«
»Das ist eine sehr aufgeklärte Sichtweise, Knochenwerfer. Aber mein Volk ist nicht aufgeklärt. Wir machen uns nichts aus Belehrung. Oder aus der Wahrheit. Unsere Geschichten existieren, um dem Weltlichen Größe zu verleihen. Oder um Augenblicken von großer Tragik oder Bedeutung eine Aura des Unausweichlichen zu geben. Man könnte das vielleicht ›Belehrung‹ nennen, aber das ist nicht der Zweck dieser Geschichten. Jede Niederlage rechtfertigt künftige Siege. Jeder Sieg ist vorteilhaft. Die Tiste Edur machen keinen Fehltritt, denn unser Tanz ist ein Tanz der Bestimmung.«
»Und du bist bei diesem Tanz nicht mehr dabei.«
»Ganz recht, Onrack. Genau genommen war ich es nie.«
»Deine Verbannung zwingt dich also dazu, sogar dich selbst anzulügen«, bemerkte Onrack.
»Sozusagen, das ist wahr. Daher bin ich gezwungen, die Geschichte neu zu erzählen, und das ist eine schwierige Sache. Damals hat es eine ganze Menge gegeben, das ich anfangs nicht verstanden habe – ganz gewiss nicht, als es geschehen ist. Einen Großteil meines Wissens habe ich erst sehr viel später erlangt – «
»Nachdem du zum Geschorenen geworden warst.« Trull Sengars mandelförmige
Weitere Kostenlose Bücher