SdG 09 - Gezeiten der Nacht
wurde«, sagte Kessel. »Ihre Eier waren in der aufgewühlten Erde. Die braunen da, die wie Stöcke aussehen und an beiden Enden Köpfe haben, das sind die gemeinsten. Sie nagen an meinen Zehen, wenn ich zu lange still sitzen bleibe. Und sie sind schwer zu zertreten.«
»Und was ist mit den gelben, stachligen?«
»Die stören mich nicht. Die fressen nur Vögel und Mäuse. Hier.«
Sie war vor einem eingestürzten Erdhügel stehen geblieben, aus dem einer der größeren Bäume des Hofs wuchs; sein Holz war merkwürdig grau und schwarz gestreift, und die Zweige und Äste gingen in geschwungenen Kurven ab statt in scharfen Winkeln. Wurzeln zogen sich über den gesamten Grabhügel, die noch vorhandene Rinde war merkwürdig schuppig, wie Schlangenhaut.
Brys runzelte die Stirn. »Und wie sollen wir uns unterhalten, wenn er da drin ist und ich hier draußen bin?«
»Er ist gefangen. Er sagt, du musst die Augen zumachen und an nichts denken. Genau wie du es machst, wenn du kämpfst, sagt er.«
Brys war verblüfft. »Er spricht jetzt zu dir?«
»Ja, aber er sagt, das reicht nicht, weil ich nicht genug … Worte kenne. Worte und Dinge. Er muss sie dir zeigen. Er sagt, dass du so etwas schon einmal getan hast.«
»Es scheint, als sollte ich keinerlei Geheimnisse mehr bewahren«, sagte Brys.
»Nicht mehr viele, nein, darum sagt er, dass er das Gleiche tun möchte. Als Gegenleistung. Damit ihr einander vertrauen könnt. Ein bisschen.«
»Ein bisschen. Hat er das gesagt?«
Sie nickte.
Brys lächelte. »Nun, ich weiß seine Ehrlichkeit zu schätzen. In Ordnung, ich werde es versuchen.« Er schloss die Augen. Kessels kalte Hand blieb in seiner; sie fühlte sich klein an, und das Fleisch schien merkwürdig lose an den Knochen zu sitzen. Er wandte seine Gedanken bewusst von diesem Detail ab. Der Geist eines Kämpfers war während eines Kampfes nicht wirklich leer. Stattdessen war er kühldistanziert und achtsam. Konzentration, die von einer Struktur definiert wurde, welche den strengen Gesetzen praktischer Notwendigkeit unterlag. Und so beobachtete der Geist und schätzte ab, und alles ohne jedes Gefühl, auch wenn alle Sinne hellwach waren.
Er spürte, wie er in die vertraute, hilfreiche Struktur hineinglitt.
Und war wie betäubt angesichts der Willensstärke, die ihn mitriss. Er kämpfte gegen die Panik an, die in ihm aufstieg, da er wusste, dass er solch einer Macht gegenüber hilflos war. Und gab nach.
Über ihm erstreckte sich ein verwandelter Himmel. Krankhaftes, wirbelndes grünes Licht umgab eine ausgefranste schwarze Wunde, die so groß war, dass sie den Mond hätte verschlingen können. Wolken wanden sich, gequält und zerfetzt von unzähligen Gegenständen, die allesamt gegen die Luft zu kämpfen schienen, während sie herabstürzten, als ob diese Welt sich ihrem Eindringen aktiv widersetzte. Objekte quollen aus der Wunde, tunnelten durch Schichten am Himmel.
Eine riesige Stadt lag vor ihm, erhob sich mit terassenförmig angelegten Gärten und erhöhten Straßen aus einer flachen Ebene. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte eine Gruppe von Türmen in den Himmel, erreichte dabei eine außergewöhnliche Höhe. Jenseits der Außenbezirke der Stadt erstreckte sich Ackerland in alle Richtungen, so weit das Auge reichte; merkwürdige Schatten wogten darüber hinweg.
Brys wandte den Blick ab und schaute nach unten, stellte fest, dass er auf einer Plattform aus rotfleckigem Kalkstein stand. Vor ihm führten steile Stufen nach unten, Reihe um Reihe, Hunderte, zu einem gepflasterten Platz, der von blau bemalten Säulen flankiert war. Ein kurzer Seitenblick nach rechts ließ ihn eine steile Schräge erkennen. Er befand sich auf der abgeflachten Spitze eines pyramidenförmigen Bauwerks, und zu seiner Linken stand jemand, wie er plötzlich überrascht feststellte. Eine geisterhafte, verschwommene Gestalt, die kaum zu erkennen war. Sie war groß und schien zum Himmel hinaufzustarren, den Blick auf die schreckliche, dunkle Wunde gerichtet.
Gegenstände trafen jetzt auf die Erde. Sie landeten hart, aber nicht annähernd mit der Geschwindigkeit, die sie hätten besitzen sollen. Ein lautes Krachen hallte von dem Platz zwischen den Säulenreihen wider, und Brys sah, dass dort eine große Steinskulptur zur Ruhe gekommen war. Ein bizarres, tierhaftes menschliches Wesen, das breitbeinig dahockte. Die muskulösen Arme reckten sich nach unten, beide Hände waren um den Penis gelegt. Schultern und Kopf waren nach dem Vorbild
Weitere Kostenlose Bücher