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SdG 09 - Gezeiten der Nacht

SdG 09 - Gezeiten der Nacht

Titel: SdG 09 - Gezeiten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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eines Stiers geformt. Ein zweites Paar Beine – weibliche Beine – war um die Hüften des Tiermannes geschlungen; die Plattform, auf der das Wesen kauerte, war wie eine Frau geformt, die unter ihm auf dem Rücken lag. Ganz in der Nähe war das Klappern von knapp zwei Dutzend Tontafeln zu hören – sie waren zu weit weg, als dass Brys hätte erkennen können, ob sie beschriftet waren, obwohl er es vermutete –, die wie auf einem Luftkissen dahinschlitterten, ehe sie als Scherbenhaufen liegen blieben.
    Bruchstücke von Gebäuden folgten – behauene Kalksteinblöcke, Ecksteine, Mauern aus Lehmziegeln und mit Lehm beworfenem Flechtwerk. Dann abgetrennte Gliedmaßen, blutige Teile von Vieh und Pferden, eine Herde von Tieren, die vielleicht Ziegen gewesen sein mochten; ihr Inneres war nach außen gekehrt, ihre Eingeweide wippten hinter ihnen her. Und schließlich dunkelhäutige Menschen – oder zumindest ihre Arme, Beine, Rümpfe.
    Der Himmel über Brys füllte sich, mit großen farblosen Bruchstücken, die wie Schnee herabschwebten.
    Und dann kam etwas Großes durch die Wunde. Von Blitzen umzuckt schien es vor Schmerzen zu schreien; das Kreischen nahm kein Ende, war ohrenbetäubend.
    Sanfte Worte erklangen im Innern von Brys’ Kopf. »Mein Geist, der freigelassen wurde, um zu wandern, vielleicht auch, um Zeuge zu werden. Sie haben gegen Kallor Krieg geführt; es war eine gute Sache. Aber … was sie hier getan haben …«
    Brys konnte die Augen nicht von der heulenden Kugel aus Blitzen abwenden. Er konnte Gliedmaßen in ihrem Innern erkennen, um die brennende Lichtbögen geschlungen waren, als wenn es Ketten wären. »Was – was ist das?«
    »Ein Gott, Brys Beddict. In seiner eigenen Sphäre war er in einen Krieg verstrickt. Denn dort gab es noch andere Götter … Rivalen. Die Versuchung …«
    »Ist dies eine Vision der Vergangenheit?«, fragte Brys.
    »Die Vergangenheit lebt weiter«, erwiderte die Gestalt. »Wir können es nicht wissen … solange wir hier stehen. Wie schätzen wir den Anfang ab oder das Ende? Für uns alle war gestern wie heute, und es wird auch morgen so sein. Wir sind uns dessen nicht bewusst. Oder vielleicht sind wir es doch, und haben uns -aus Gründen der Bequemlichkeit oder der Seelenruhe – nur entschlossen, nicht zu sehen. Nicht zu denken.« Eine vage Geste mit einer Hand. »Manche sagen, es waren zwölf Magier, manche sagen, sieben. Es spielt keine Rolle, denn sie werden gleich zu Staub werden.«
    Die gewaltige Kugel brüllte jetzt, wuchs mit erschreckender Geschwindigkeit, als sie der Erde entgegenfiel. Sie würde, wie Brys bewusst wurde, die Stadt zerschmettern.
    »Und so haben sie sich durch ihre verzweifelten Bemühungen, den Plan gewaltsam zu verändern, selbst ausgelöscht – sich und ihre ganze Zivilisation.«
    »Dann sind sie also gescheitert.«
    Die Gestalt sagte einige Zeit lang nichts.
    Und der herabfallende Gott schlug auf, ein blendender Blitz, eine Detonation, die die Pyramide unter ihren Füßen erzittern und unten auf dem Platz Risse entstehen ließ. Eine Rauchsäule erhob sich, blähte sich auf und dehnte sich aus, und ihr Schatten verschlang die Welt. Eine gewaltige Böe raste in alle Richtungen davon, warf die Säulen entlang des Platzes um, entwurzelte Bäume im Ackerland. Die Bäume brachen in Flammen aus.
    »Als Reaktion auf die Verzweiflung, die sie verspürten, und von brodelnder Wut getrieben, riefen sie einen Gott herab. Und starben dabei. Bedeutet dies, dass ihr Plan gescheitert ist? Nein, ich spreche jetzt nicht von Kallor. Ich spreche von ihrer Hilflosigkeit, die ihren Wunsch nach Veränderung immer größer werden ließ. Brys Beddict, wenn ihre Geister jetzt hier bei uns stehen könnten – hier in dieser zukünftigen Welt, in der unsere Körper sich befinden – und damit die Möglichkeit hätten zu sehen, was ihre Tat bewirkt hat, würden sie erkennen, dass alles, was sie zu erreichen suchten, tatsächlich eingetroffen ist.
    Derjenige, der an die Erde gekettet wurde, hat die Mauern seines Gefängnisses verzerrt. So sehr, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen sind. Sein Gift hat sich verbreitet und die Welt infiziert – und alle, die auf ihr leben.«
    »Ihr nehmt mir jede Hoffnung«, sagte Brys.
    »Das tut mir Leid. Versucht nicht, Hoffnung bei Euren Anführern zu finden. Sie sind Lagerstätten von Gift. Und sie haben nur so lange Interesse an Euch, wie sie Euch kontrollieren können. Pflichterfüllung und Gehorsam, das erwarten sie von Euch, und sie

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