SdG 09 - Gezeiten der Nacht
ist.«
»Mein Herr ist immer pünktlich.«
Der Sekretär verzog das Gesicht. »Ach, so einer ist er, ja? Ihr Armer. Und jetzt fort mit Euch. Ich habe zu tun.«
Bagg beugte sich plötzlich und unerwartet vor und stieß dem Sekretär zwei Finger in die Augen. Er traf auf keinerlei Widerstand. Der Sekretär legte den Kopf in den Nacken und machte ein finsteres Gesicht.
»Schlau«, sagte Bagg lächelnd und trat zurück. »Mein Kompliment an den Zauberer der Gilde.«
»Was hat mich verraten?«, fragte der Sekretär, als Bagg die Tür aufmachte.
Der Diener warf einen Blick zurück. »Ihr seid viel zu rattenartig und verratet dadurch die Besessenheit Eures Gebieters. Aber wenn schon, die Täuschung ist hervorragend.«
»Man hat mich seit Jahrzehnten nicht mehr durchschaut. Wer seid Ihr, im Namen des Abtrünnigen?«
»Um darauf eine Antwort zu bekommen«, sagte Bagg, während er sich wieder abwandte, »werdet Ihr eine Petition einreichen müssen.«
»Wartet! Wer ist Euer Herr?«
Bagg winkte noch einmal zum Abschied und zog dann die Tür hinter sich zu. Er stieg die Stufen hinunter und wandte sich nach rechts. Ein langer Marsch zu den Steinbrüchen lag jetzt vor ihm, und genau wie Tehol es vorhergesagt hatte, war der Tag heiß -und es wurde immer noch heißer.
Brys, der herbeigerufen worden war, um sich zum Ceda ins Cedarium – in das Zimmer der Fliesen – zu gesellen, stieg die letzten Stufen bis zum Absatz hinab und begab sich dann auf den erhöhten Laufgang. Kuru Qan ging anscheinend völlig in Gedanken versunken auf der Plattform am hinteren Ende im Kreis herum, wobei er leise vor sich hin murmelte.
»Ceda«, rief Brys, als er zu ihm trat, »Ihr wolltet mich sehen?«
»Unerfreulich, Finadd, alles höchst unerfreulich. Es übersteigt das Begriffsvermögen. Ich brauche einen klugen Kopf. Nicht meinen, mit anderen Worten. Vielleicht Euren. Kommt her. Hört zu.«
Brys hatte den Ceda noch nie so sorgenvoll sprechen gehört. »Was ist geschehen?«
»Alle Festen, Finadd. Chaos. Ich bin Zeuge einer Transformation geworden. Hier, seht es Euch selbst an. Die Fliese des Angelpunkts, des Dolmen. Könnt Ihr es sehen? Eine Gestalt, die zusammengekauert am Fuß des Dolmen hockt. Sie ist mit Ketten an den Menhir gebunden. Und es ist kaum etwas zu erkennen; alles ist voller Rauch, ein Rauch, der meinen Verstand betäubt. Der Dolmen ist widerrechtlich in Besitz genommen worden.«
Brys starrte auf die Fliese hinunter. Die Gestalt hatte etwas Geisterhaftes, und sie verschwamm mehr und mehr vor seinen Augen, je länger er hinschaute. »Von wem?«
»Von einem Fremden, einem Außenseiter.«
»Einem Gott?«
Kuru Qan massierte sich die faltige Stirn mit den Fingerspitzen, während er weiter auf und ab ging. »Ja. Nein. Wir halten nicht viel von der Vorstellung von Göttern. Alles Emporkömmlinge, die nichts sind, verglichen mit den Festen. Die meisten von ihnen sind nicht einmal echt, sie sind einfach nur Projektionen der Wünsche und Hoffnungen der Menschen. Ihrer Ängste. Natürlich«, fügte er hinzu, »ist das manchmal schon alles, was es braucht.«
»Was meint Ihr damit?«
Kuru Qan schüttelte den Kopf. »Und die Feste des Azath … Das beunruhigt mich sehr. Die mittlere Fliese, der Herzstein -könnt Ihr es spüren? Der Herzstein des Azath ist gestorben, mein Freund. Die anderen Fliesen haben sich am Ende um ihn versammelt, haben sich eng zusammengezogen wie Blut in einem verwundeten Körper. Ins Grab ist eine Bresche geschlagen. Das Portal steht unbewacht. Ihr müsst für mich zum viereckigen Turm gehen, Finadd. Und nehmt Eure Waffen mit.«
»Wonach soll ich Ausschau halten?«
»Nach allem, was Euch irgendwie seltsam erscheint. Aufgewühlte Erde. Aber seid vorsichtig – diejenigen, die in jenen Gräbern hausen, sind nicht tot.«
»Also gut.« Brys ließ den Blick über die nächsten Fliesen schweifen. »Gibt es noch mehr?«
Kuru Qan blieb stehen, zog die Augenbrauen hoch. »Mehr? Die Feste der Drachen ist erwacht. Wyrm. Bluttrinker. Tor. Galan. Was die Angelpunkte betrifft, ist der Abtrünnige nun im Zentrum aller Dinge positioniert. Die Meute rückt näher, und Gestaltfinder ist zu einer Schimäre geworden. Die Jägerin der Feste des Eises wandelt auf gefrorenen Pfaden. Kind und Samen erwachen zum Leben. Die Leere Feste hat sich verfinstert, wie Ihr sehen könnt. Alle ihre Fliesen. Ein Schatten steht hinter dem Leeren Thron. Und seht, Erlöser und Verräter – sie sind miteinander verschmolzen. Sie sind nun
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