SdG 09 - Gezeiten der Nacht
Kapuzenträger: »Ich bin Selekis, aus dem Azath-Turm.«
»Aus dem Azath-Turm?«, wiederholte Seren fragend. »Wie komisch. Nun, Ihr seid so groß wie ein Edur, Selekis. Wollt Ihr uns Euer Gesicht nicht zeigen?«
»Lieber nicht, Seren Pedac. Jedenfalls noch nicht.« Es schien, als wäre sein versteckter Blick auf Forcht gerichtet, als er fortfuhr: »Vielleicht später, wenn wir diese Stadt verlassen und Zeit haben, uns über unsere etwaigen Reiseziele zu unterhalten. Es könnte nämlich in der Tat sein, dass wir einige Zeit zusammen reisen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Forcht. »Ich bin auf der Suche nach Vater Schatten.«
»Tatsächlich? Und Scabandari Blutauge ist immer noch am Leben?«
Forcht schwieg verblüfft. Er muss ein Tiste Edur sein. Vielleicht aus einem der anderen Stämme. Einer, der ebenfalls auf der Flucht ist. Dann unterscheiden wir uns also eigentlich gar nicht.
»Kommt rein, Ihr alle«, sagte Seren Pedac. »Wir sollten ein paar Vorräte zusammenkratzen, obwohl ich davon überzeugt bin, dass die Rattenfängergilde uns mit allem ausstatten wird …, zu einem guten Preis.«
Das Gespenst lachte leise. »Natürlich. So sind sie, die Letherii …«
Shurq Elalle trat von der Leiter herunter auf das Dach. Die Sonne war aufgegangen, und auf den Stufen waren Menschen zu sehen; sie gingen ein bisschen langsamer als sonst. Waren unsicher, vielleicht erfüllt von einer gewissen Angst. Schließlich waren da noch die Tiste Edur, die in Trupps durch die Straßen patrouillierten. Während andere, größere Gruppen sich durch die Stadt bewegten, als suchten sie jemanden.
Tehol Beddict und sein Diener standen auf der Seite des Dachs, die zum Kanal hinausging; sie wandten Shurq, die langsam näher trat, den Rücken zu. Tehol schaute sich über die Schulter um und schenkte ihr ein warmes Lächeln. Er sah … irgendwie anders aus.
»Tehol Beddict«, sagte sie, als sie neben ihm stand, »eins Eurer Augen ist blau.«
»Ach ja? Das muss irgendeine schändliche Entzündung sein, Shurq, denn ich kann außerdem kaum etwas damit sehen.«
»Es wird rechtzeitig klar werden«, sagte Bagg.
»Dann habt Ihr also wieder damit angefangen, das Ende der Zivilisation zu planen, Tehol?«, fragte Shurq.
»Das habe ich, und es wird ein köstliches Ende sein.«
Sie grunzte. »Dann werde ich Shand, Hejun und Rissarh wieder zu Euch schicken –«
»Wagt es nicht. Bringt sie zu den Inseln. Ich arbeite lieber allein.«
»Allein?«
»Nun, mit Bagg hier, natürlich. Schließlich braucht jeder Mann einen Diener.«
»Ich nehme es an. Nun gut. Ich bin hier, um Lebewohl zu sagen.«
»Auf zum Piratendasein, stimmt’s?«
»Warum auch nicht? Ich baue nur eine bestehende Karriere weiter aus.«
Tehol blickte Bagg an und sagte: »Die Diebin, die unterging …«
»… ist wieder aufgetaucht«, vollendete Bagg den Satz.
Die beiden Männer grinsten sich an.
Shurq Elalle wandte sich ab. »Nun, das ist etwas, das ich ganz bestimmt nicht vermissen werde.«
Nachdem sie gegangen war, blickten Tehol und Bagg noch einige Zeit länger auf das wieder erwachende Letheras hinaus. Die Stadt besetzt, der Thron usurpiert, auf den Straßen Fremde, die ziemlich … verloren aussahen.
Das zweiköpfige Insekt klammerte sich an Tehols Schulter und wollte sich nicht bewegen. Nach einiger Zeit rieb Tehol sich das schwache Auge und seufzte. »Weißt du, Bagg, ich bin froh, dass du es nicht getan hast.«
»Dass ich was nicht getan habe?«
»Mich alles vergessen lassen.«
»Ich bin davon ausgegangen, dass Ihr damit umgehen könnt.«
»Du hast Recht. Ich kann es. Und auf diese Weise kann ich wenigstens trauern.«
»Auf Eure Art.«
»Auf meine Art, ja. Es ist die einzige Art zu trauern, die ich kenne.«
»Ich weiß, Herr.«
Kurze Zeit später drehte Bagg sich um und ging zur Dachluke. »Ich werde bald zurück sein.«
»In Ordnung. Und wenn du zurückkommst, mach unten sauber.«
Der Diener blieb an der Falltür stehen, dachte einige Zeit nach und sagte dann: »Ich glaube, ich werde Zeit haben, genau das zu tun, Herr.«
»Hervorragend. Und jetzt gehe ich zu Bett.«
»Das ist eine gute Idee, Herr.«
»Nun, natürlich ist es das, Bagg – schließlich ist es meine.«
Epilog
Und es ist dieser Augenblick, meine Freunde,
In dem ihr wegsehen müsst,
Wenn die Welt sich neu entfaltet
In Formen, die sowohl strahlend wie schäbig
angekündigt werden, in Dunkel und Licht
Und jenem weit verstreuten Dasein,
Das dazwischen
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