SdG 12 - Der Goldene Herrscher
bis wir um eine Ecke biegen und uns plötzlich einem Fremden gegenübersehen, der niemand anders sein kann als unser übelstes Spiegelbild.
Und dann werden die Messer gezogen, und ein Lebenskampf wird gefochten - Jahr um Jahr, Tat um Tat. Mut und widerwärtiger Verrat, Feigheit und vielversprechende Tücke.
Der Fremde hat mich zurückgetrieben, Schritt um Schritt. Bis ich mich selbst nicht mehr erkenne - welcher geistig gesunde Mann würde es wagen, seine eigene Ehrlosigkeit anzuerkennen? Wer würde das Gefühl des Bösen genießen, wen würden dessen bittere Belohnungen befriedigen? Nein, stattdessen rennen wir mit unseren Lügen davon - begrüße ich nicht jede Morgendämmerung mit meinen Racheschwüren? Verfluche ich nichtflüsternd all jene, die mir Unrecht getan haben?
Und jetzt wage ich es, die Namenlosen zu beurteilen, die das eine Böse gegen das andere schwingen wollen. Und wo ist mein Platz in diesem grässlichen Plan?
Er starrte hinüber zu Icarium, der noch immer das Tor anblickte - reglos wie eine Statue, verschwommen hinter der flimmernden Hitze. Mein Fremder. Aber wer von uns ist der Böse?
Sein Vorgänger, Mappo - der Trell -, hatte solche Kämpfe längst hinter sich gelassen, vermutete Taralack. Hatte sich dafür entschieden, lieber die Namenlosen zu verraten als diesen Krieger vor dem Tor. Eine schlechte Entscheidung? Der Gral war sich seiner Antwort nicht mehi so sicher.
Er gab ein leises Zischen von sich, stieß sich von der Wand ab und schritt über den Innenhof, durch die wogende Hitze, um sich neben den Jhag zu stellen. »Wenn du deine Waffen hierlässt«, sagte Taralack, »ist es dir freigestellt, in der Stadt herumzulaufen.«
»Ist es mir auch freigestellt, meine Meinung zu ändern?«, fragte Icarium mit einem dünnen Lächeln.
»Das würde wenig bringen - allenfalls vielleicht unserer sofortige Hinrichtung.«
»Das könnte eine Gnade sein.«
»Das glaubst du doch selbst nicht, Icarium. Das sagst du nur, um mich zu verspotten.«
»Das könnte sein, Taralack Veed. Was diese Stadt angeht«, er schüttelte den Kopf, »so bin ich noch nicht für sie bereit.«
»Der Imperator könnte jeden Augenblick zu dem Entschluss kommen …«
»Das wird er nicht. Es ist Zeit genug.«
Der Gral schaute finster zu dem Jhag auf. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Weil«, sagte Icarium leise und gemessen, während er sich umdrehte, um zurückzugehen, »er Angst hat, Taralack Veed.«
Schweigend starrte der Gral ihm nach. Vor dir? Was weiß er? Bei den Sieben Heiligen, wer könnte denn etwas über die Geschichte dieses Landes wissen? Über seine Legenden? Sind sie - in Bezug auf Icarium und all das, was in seinem Innern wartet - womöglich vorgewarnt?
Icarium verschwand im Schatten des Hauseingangs. Nach einem Dutzend schneller Herzschläge folgte Taralack ihm. Doch er hatte nicht vor, sich wieder in die mürrische Gesellschaft des Jhag zu begeben, sondern jemanden zu suchen, der ihm vielleicht Antworten auf all die Fragen geben konnte, die ihn mittlerweile bestürmten.
Einst war Varat Taun der Stellvertreter von Atri-Preda Yan Tovis gewesen, doch jetzt kauerte er sich in einer Ecke des unmöblierten Raums zusammen. Als Yan Tovis den Raum betrat, zuckte er zusammen. Und drückte sich noch enger in die Ecke, ohne den Kopf zu heben und sie anzublicken. Dieser Mann hatte Taralack Veed und Icarium ganz allein durch die Gewirre zurückgeführt - durch einen Tunnel, den unbekannte Magie aufgerissen hatte, und der jede Sphäre durchschnitten hatte, die die Soldaten auf dem Hinweg durchquert hatten. Die Atri-Preda hatte die schwärende Wunde, die das Ausgangstor gewesen war, selbst gesehen; sie hatte sein schrilles Geheul gehört - eine Stimme, die in ihre Brust zu greifen und nach ihrem Herz zu packen schien; sie hatte ungläubig die drei Gestalten angestarrt, die durch das Tor getreten waren, wobei die eine von den beiden anderen mitgeschleppt worden war …
Keine weiteren Überlebenden. Keine. Weder Edur noch Letherii.
Varat Tauns Geist war bereits gebrochen gewesen. Unfähig, zusammenhängende Erklärungen abzugeben, hatte er nur noch vor sich hingebrabbelt. Er hatte jeden mit schriller Stimme angeschrien, der ihm zu nahe gekommen war, und hatte doch den Blick nicht von dem bewusstlosen Icarium abwenden können oder wollen.
Sie sind alle tot. Alle. Das hatte Taralack Veed mit krächzender Stimme gesagt. Der Erste Thron ist zerstört, alle seine Verteidiger sind tot - nur Icarium hat es
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